NS-Volkszaehlung

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Inhaltsverzeichnis

Die restlose Erfassung

Wer sich über die geschichtlichen Wurzeln der Volkszählung in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus informieren will, kommt an einem Standardwerk nicht vorbei, das auch in der Diskussion um und für den Widerstand gegen die Volkszählung 1987 eine bedeutende Rolle gespielt hat:

Götz Aly und Karl-Heinz Roth: "Die restlose Erfassung: Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus", Rotbuch-Verlag 1984 (2. Auflage im Fischer Taschenbuchverlag 2005)

Aus diesem wichtigen Buch stammen einige der folgenden Erläuterungen:


Organisatorische Voraussetzungen

Die Volkszählungen 1933 und 1939 waren längst nicht die einzigen Erfassungsaktionen des Regimes: Das Arbeitsbuch (1935), das Gesundheitsstammbuch (1936), die Meldepflicht (1938), die Volkskartei (1939) und zuletzt die Personenkennziffer (1944) waren die bürokratischen Vorraussetzungen für ein abgestuftes System von Lohn und Strafe, für "Auslese" und "Ausmerze".

Parallelen?

Erfassen und Unterdrückung

Den Zusammenhang zwischen Erfassen und gewalttätigen Unterdrücken dokumentiert ein Fernschreiben, das der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Heydrich, nach Polen, Danzig, Königsberg und Breslau schickte:

"Betr. Räumung der neuen Ostprovinzen Auf grundsätzlichen Befehl des Reichsführers SS wird die Räumung von Polen und Juden in den neuen Ostprovinzen durch die Sicherheitspolizei durchgeführt. (...) Die Räumung nach dem Fernplan erfolgt nach den Unerlagen der Volkszählung. Nach dieser besitzen alle Personen in den neuen Provinzen ein Exemplar. Das Volkszählungsformular gilt als vorläufiger Ausweis, der zum Aufenthalt berechtigt. Daher müssen vor dem Abtransport allen Personen diese Formulare abgenommen werden. Der Aufenthalt nach der Volkszählung ohne dieses Formular wird in den neuen Provinzen auf Befehl des RFSS (= Reichsführer SS, d. Verf.) mit Erschießen bedroht. Durch diese Maßnahme wird es möglich sein, die Rückkehr der angesiedelten Personen zu verhindern, nachdem eine wirksame Grenzkontrolle zum Gouvernment praktisch kaum voll erreichbar erscheint. Voraussichtlich wid die Volkszählung am 17.12.1939 stattfinden, so daß der große Räumungsplan erst nach diesem Zeitpunkt, also etwa ab 1.1.1940 beginen kann."


Entstehung des Buches, Wesen der Zahlenabstraktion

Auf dem Kongreß "Naziverbrechen gegen die Menschlichkeit in Polen und Europa" in Warschau erzählte uns Martin Hirsch am 16. April 1983 strahlend, das Bundesverfassungsgericht habe die geplante Volkszählung ausgesetzt. Wir haben uns am selben Abend noch entschieden, die gerichtlich verfügte Pause zu nutzen, um diesen historischen Beitrag zu einem aktuellen Thema zu recherchieren und zu schreiben. Auffällig war auf dem Warschauer Kongreß: Über die Mordtaten wurde viel gesprochen, über die differenzierte und effiziente Methodik der Herrschaftsausübung so gut wie nicht. Wir haben uns auf zwei unserer Meinung nach entscheidende Teilbereiche konzentriert: erstens die Methoden, die der Erfassung der Gesamtbevölkerung dienten; und zweitens einige herausragene Sonderaktionen, die die Selektion besonders stigmatisierter Minderheiten vorbereiteten. Nicht nur der im gewöhnlich illegalen Verwaltungsalltag betriebene Datenmißbrauch, sondern gerade der gesetzliche Gebrauch des Zahlenmaterials ist bedenklich. Das scheint uns das entscheidende (von der Datenschützerdiskussion abweichende) Resultat unserer Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zu sein. Liegt nicht schon in der Abstraktion ders Menschen zur Ziffer ein fundamentaler Angriff auf seine Würde? Ist die Versuchung nicht gegeben, den einmal zum Merkmalsprofil geronnenen Menschen zu begradigen, zu bereinigen, wie die Statistiker es nennen? Zählungen fördern die Macht des Objektiven, die Rationalität der Willkür. Auch ohne Mißbrauch. Die verschiedenen Erfassungstechniken sind von den Nationalsozialisten benutzt, weiterentwickelt und nur selten "pervertiert" worden. Es ist unmöglich, die Auswüchse zu beseitigen, ohne den gesamten methodischen Ansatz aufzugeben. Gerade aufgrund der geschichtlichen Erfahrung erscheinen Volkszählungen und -kataster mit ihren scheinbar objektiven Daten und behördlichen Entscheidungshilfen als gegen die gesellschaftliche Phantasie gerichtete Angriffe. Die Zahlenwalze rollt auf die Menschen los. Es geht aber nicht um Bedarfsziffern, es geht um Bedürfnisse. Ein Grundbedürfnis, das wir während unserer Recherchen immer intensiver verspürten, was das nach der Gleichheit unter den Menschen. Das fortschreitende Zählen und Abspalten der jeweils Schwächsten und derer, die in bestimmten sozialpolitischen Konstellationen isoliert sind, dient der systematischen Vertiefung von Ungleichheit, und es löst das gesellschaftliche Leben administrativ auf - in Splitter und Partikel.

Götz Aly und Karl-Heinz Roth, Januar 1984

Volkskartei-Karte aus dem Jahr 1939, weibliche (blaue) Ausführung, Vorderseite


Parallelen?

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Die Volkszählung 2011 ist nicht die einzigen Erfassungsaktion der Bundesregierung: Der elektronische Entgeltnachweis ELENA (2010), die elektronische Gesundheitskarte (ab 2011?), die Meldepflicht (seit 1945, ein neues Bundesmeldegesetz ab 2010?), verschiedenste Zentraldateien (Anti-Terror-Datei 2007, Radikalisierungsdatei 2011?, SIS 1985, VIS 2010 u.v.m.) und zuletzt die Steuer-Identifikationsnummer (2007) sind bürokratische Maßnahmen der wenigen letzten Jahre. Wofür?


Das Statistische Bundesamt

Darüber, welche wesentliche Rolle Statistik und Statistiker in den Zeiten des Nationalsozialismus gespielt haben, schweigt sich das Bundesamt für Statistik in seiner "Geschichte der amtlichen Statistik" leider vollständig aus.


Biographien

Folgende Angaben wurden dem Buch von Götz Aly und Karl-Heinz Roth, "Die restlose Erfassung" entnommen
Es handelt sich nur um Auszüge und wenige von vielen dort erwähnten Lebensläufen ...

Siegfried Koller

  • Geboren im Januar 1908.
  • 1931 Der arbeitslose Koller erhält ein Stipendium der amerikanischen Rockefeller-Stiftung zum Aufbau einer statistischen Abteilung im Kerckhoff-Institut für Herz- und Kreislaufforschung Bad Nauheim.
  • 1945 - 1952 In russischer Gefangenschaft im Zuchthaus Brandenburg.
  • 1953 - 1962 Chef der Abteilung für Bevölkerungs- und Kulturstatistik im Statistischen Bundesamt.
  • 1955 Aufnahme in die deutsche Gruppe des Internationalen Verbands für Bevölkerungswissenschaft, Teilnahme an Konferenzen u.a. zur Schaffung der Erfassungsvorraussetzungen für die spätere Kampagne gegen die "Bevölkerungsexplosion der dritten Welt"
  • 1957 Koller führt den Mikrozensus ein.
  • 1961 Vorbereitung der Volkszählung 1961, in dessen Vorbereitungs-Arbeitskreis er seit 1954 tätig war. (An erster Stelle des Erhebungsprogramms sollte eine verfeinerte "Fruchtbarkeitsstatistik" eines anderen NS-Statistikers Burgdörfer stehen.)
  • 1962 Obwohl Siegfried Koller der zweitmächtigste Mann im Statistischen Bundesamt ist, wird er nach der Pensionierung dessen Leiters Gerhard Fürst nicht zum neuen Chef ernannt, sondern in 1963 vorsichtig auf einen extra für ihn geschaffenen Lehrstuhl der Uni Mainz für Medizinische Statistik "abgeschoben".
  • Siegfried Koller war Mitglied des Internationalen Statistischen Instituts, Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Dokumentation und Statistik, beratender Statistik-Experte im Weltgesundheitsrat, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, führend vertreten in der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie, zuletzt noch im Sachverständigenkreis EDV im Gesundheitswesen im Wissenschaftsministerium tätig und Berater des Wissenschaftsrats.
  • Am 31. Januar 1978 wurde Professor Dr. phil. Dr. med. Siegfried Koller feierlich im Großen Saal des Mainzer Rathauses emeritiert.



Und wer war Siegfried Koller während des "Dritten Reiches"?

Siegfried Koller entwickelt nach 1931 eine Leidenschaft für allgemeine Erbstatistik.

Am 1. Mai 1933 tritt der der NSDAP bei und verbindet 1934 seine Karriere mit der von Professor Heinrich Wilhelm Kranz.

"Im Gegensatz zu Koller war Kranz ein alter Haudegen der NS-Bewegung, ein Mann der thüringischen Freikorps, der im Kapp-Lüttwitz-Putsch mitgemacht und den den NS-Ärztebund in Hessen organisiert hatte."

Koller pocht auf einem von ihm im Dezember 1934 organisierten "rassenhygienischen Forbildungskurs" auf eine radikale Verschärfung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und wird zum Motor einer ständigen Ausweitung der Sterilisationsverbrechen.

"Das 'Ehegesundheitsgeetz' vom 18.10.1935 verbot die Eheschließung für Erbbelastete - neben der Zwangssterilistation wurde die eugenisch indizierte Zwangsabtreibung gesetzlich erlaubt. (...) Diejenigen, die nach der Kollerschen Wahrscheinlichkeitsrechnung 25 Prozent und mehr Krankheitsgene mit sich herumtrugen, sollten der Selektion verfallen."

Es wurden "sozialbiologische Kataster" erstellt, schon 1934 wurden unter dem Motto "gesundheitliche Gesamtbeobachtung des Lebens" Gesundheitsuntersuchungen systematisiert und in dem "Zentralen Gesundheitspaßarchiv (GPA)" zusammengefasst.
Später wurde die Reichsbevölkerung in vier Kategorien eingeteilt:

  1. Asoziale Personen
  2. Tragbare Personen
  3. Die Gruppe der Durchschnittsbevölkerung
  4. Erbbiologisch besonders hochwertige Personen

Je nachdem, welcher Gruppe man zugeordnet wurde, durfte man mit staatlicher Unterstützung in Form von z.B. Kinderbeihilfen, Ehestandsdarlehen, Ausbildungsbeihilfen rechnen.
"Asoziale sind vom Bezug jeder Zuwendung ausgeschlossen", hieß es.

"Fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des 'Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' war das Geschäft der Zwangssterilisierung der als erbkrank Bezeichneten weitgehend besorgt. Etwa 300.000 Menschen waren unfruchtbar gemacht, Zigtausende Ehen verhindert oder aufgelöst, Tausende Föten zwangsweise abgetrieben worden."

Kranz und Koller konzentrierten sich nun auf die Entwicklung eines Gesetzentwurf "über die Aberkennung der völkischen Ehrenrechte." Sie definieren den Begriff der "Gemeinschaftsunfähigen": "Gemeinschaftsunfähige sind, wer nach seiner Gesamtpersönlichkeit nicht in der Lage ist, den Mindestanforderungen der Volksgemeinschaft an sein persönliches, soziales und völkisches Verhalten zu genügen."
Diese Gruppe zeige "biologisch durchaus eine Sonderstellung; es ist daher berechtigt und notwendig, für sie im Rahmen der rassenhygienischen Maßnahmen auch eine Sonderbehandlung zu fordern", schreiben Kranz und Koller.

Der Begriff der "Sonderbehandlung" hatte zu Zeiten des Nationalsozialismus eine besondere, tödliche Bedeutung...

Diese Pläne konnten aufgrund der Kriegswende im Winter 1941/42 "nur" noch punktuell in grausame Realität "umgesetzt" werden.


Siegfried Koller und die Volkszählung 1961

Als zweitmächtigster Mann im Statistischen Bundesamt Wiesbaden war Koller maßgeblich für die Vorbereitung der Volkszählung 1961 verantwortlich.

"Es entstand ein Erhebungsprogramm besonderer Art. An erster Stelle stand die verfeinerte Burgdörfersche Fruchtbarkeitsstatistik: Feststellungen über den Geburtenabstand der Kinder, Ehedauer und die Ordnungszahl der Ehe gehörten zum Zählprogramm. (...) Auch nach der Staatsangehörigkeit wurde wieder gefragt; das Ausländerzentralregister des ebenfalls in Wiesbaden aufgebauten Bundeskriminalamtes wies noch große Lücken auf ..."

Neben der "Perfektionierung" der Berufszählung holte der Koller-Ausschuss noch weiter aus: "So entwickelte er einen Zusatzbogen zur Haushaltsliste, der die Zusatzerfassung von etwa einer Million Anstaltsinsassen aller Art garantierte: Seit den sechziger Jahren ist das Statistische Bundesamt in der Lage, die in der NS-Zeit so umständlich erarbeitete "Irrenstatistik" sozusagen nebenbei mit einer noch nie dagewesenen Genauigkeit zu erstellen."

"Doch es kam anders. Der Innenausschuss des Bundestags strich unter Hinweis auf NS-Reminiszenzen im letzten Augenblick alle die 'Fruchtbarkeitsstatistik' betreffenden Fragen ersatzlos, der Anstalts-Zusatzbogen wurde teilweise entschärft."

"Was dann im Juni 1961 amtlich ausgefragt wurde, war noch genug, und eine Menge des Gestrichenen holte Koller durch den Mikrozensus nach."

Danach - vielleicht aufgrund der großen NS-Prozesse zu jener Zeit - wurde Koller dem Statistischen Bundesamt zu "gefährlich" - man schob ihn "behutsam in sein ureigenstes, weniger sensibel erscheinendes Spezialgebiet" in das nur für ihn geschaffene Institut für Medizinische Statistik der Uni Mainz ab, wo er seinen nächsten Karriereschritt vollzog (s.o.).

Koller verließ das politische Parkett mit erhobenen Haupt und wurde von seinen Schülern wie Karl Schwarz, Kurt Horstmann und Hermann Schubnell bewundert.

Materialien

  • Götz Aly und Karl-Heinz Roth: Die restlose Erfassung - Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, Fischer Taschenbuch Verlag, 2. Auflage 2005
  • Jutta Wietog: Bevölkerungsstatistik im Dritten Reich, Zusammenfassung einer vom BMI und Destatis in Auftrag gegebenen Studie "Volkzählungen unter dem Nationalsozialismus" von 2001
  • "Volkszählung und Erfassung im NS-Staat", Radio-Feature von Hubert Brieden (MP3, 20:46 lang)
  • Scan eines Artikels aus der "Deutschen Steuer-Zeitung und Wirtschaftlicher Beobachter" vom 8.8.1936: Auskunftspflicht bei statistischen Erhebungen. Interessant sind der zweite Satz im dritten Absatz "Im nationalsozialistischen Volksstaat..." und der allerletze Satz des Artikels.
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