FDP-Brief: Unterschied zwischen den Versionen
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Sehr geehrte Damen und Herren, | Sehr geehrte Damen und Herren, |
Version vom 29. April 2011, 11:03 Uhr
Worum geht es?
Die Bundesjustizministerin hat im Januar einen fatalen Vorschlag auf den Tisch gelegt, demzufolge künftig alle Internet-Verbindungsdaten auf Vorrat gespeichert und dadurch dynamisch zugewiesene IP-Adressen noch sieben Tage nach Verbindungsende zuzuordnen wären, ohne richterliche Anordnung. Da Polizei und Nachrichtendienste zugleich die Herausgabe von Internet-Nutzungsprotokollen (Logfiles) verlangen können, wäre der Vorschlag das Ende der Anonymität im Internet und die Wiedereinführung einer Vorratsdatenspeicherung. Die 7-tägige Speicherdauer änderte nichts daran, dass laut Statistik gerade in der ersten Woche nach Verbindungsende die meisten Behördenanfragen erfolgen. Darüber hinaus betrachtet die Ministerin ihren Vorschlag erst als "Grundlage", also Ausgangspunkt, für die anstehenden Verhandlungen mit der Union, die noch weit mehr protokollieren lassen will. Als "Kompromiss" droht daher eine allgemeine "Vorratsdatenspeicherung light" für sämtliche Verbindungsdaten ("Quick Freeze Plus"), obwohl die FDP überhaupt keinen Kompromiss eingehen müsste.
In einer ähnlichen Situation, nämlich als der Landtag in NRW über den Jugendmedien-Staatsvertrag abstimmen sollte und die SPD einzuknicken drohte, haben 50 Prominente aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, der „Netzgemeinschaft“ sowie Juristen, Journalisten und Netz-Künstler einen offenen Brief an die SPD-Landtagsabgeordneten geschrieben mit der Bitte, die Novelle des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags abzulehnen (http://ak-zensur.de/download/JMStV-Brief--Alternativen--SPD-MdL-NRW.pdf) . Unter den Unterzeichnern waren auch viele SPD-nahe Personen. Diese Initiative war viel beachtet und hat letztlich mit zur Ablehnung des JMStV geführt.
Wir wollen deswegen einen offenen Brief an alle FDP-Bundestagsangeordnete entwerfen, um sie zu bitten, entsprechend ihrem Wahlversprechen keinerlei verdachtsloser Speicherung von Verbindungsdaten Unschuldiger und Unverdächtiger zuzustimmen, auch nicht von IP-Adressen.
Briefentwurf
Strafverfolgung im Internet: Intelligente Strategien für ein sicheres Netz – IP-Vorratsdatenspeicherung stoppen!
An die
Abgeordneten der FDP-Fraktion des
Deutschen Bundestages
... Mai 2011
Strafverfolgung im Internet:
Warum eine Vorratsspeicherung von Internet-Verbindungsdaten nicht nur ihr Ziel verfehlt, sondern auch schädlich ist und welche Alternativen besser sind
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
Politik muss sicherstellen, dass Straftaten wirksam verfolgt werden – im Internet wie in der realen Welt. Gleichzeitig muss die Politik die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die persönlichen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten in unserer Informationsgesellschaft berücksichtigen.
Das Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums, auf dessen Grundlage ein Kompromiss mit der Union in Sachen Vorratsdatenspeicherung erarbeitet werden soll, enthält unter Nummer 1 den Vorschlag einer schnellen anlassbezogenen Sicherung von Telekommunikations-Verkehrsdaten, wenn diese voraussichtlich zur Aufklärung des konkreten Verdachts einer Straftat benötigt werden ("Quick Freeze"). Unter Nummer 2 wird dann aber vorgeschlagen, Internet-Zugangsanbieter zu verpflichten, flächendeckend und ohne Anlass für die Dauer von sieben Tagen auf Vorrat zu speichern, wer wann unter welcher IP-Adresse mit dem Internet verbunden war. Solche Protokolle sollen es Staatsbeamten ermöglichen, schon bei dem Verdacht einer Bagatellstraftat die Identität des Nutzers einer IP-Adresse ohne richterliche Anordnung offenlegen zu lassen, voraussichtlich aber auch schon präventiv sowie für geheimdienstliche Ermittlungen (§ 113 TKG). Alleine die Deutsche Telekom AG musste 2010 täglich über 50 Staatsanfragen nach der Identität des Nutzers einer IP-Adressen beantworten.
IP-Vorratsdatenspeicherung schafft den gläsernen Internetnutzer
Bei der Information, wer wann unter welcher IP-Adresse mit dem Internet verbunden war, handelt es sich um Telekommunikations-Verkehrsdaten des Internet-Zugangsanbieters, die - nicht anders als Telefon-Verbindungsdaten - dem Schutz des Fernmeldegeheimnisses unterliegen. Eine kompetente Netzpolitik begreift IP-Adressen nicht als "Telefonnummer" oder "Kfz-Kennzeichen des Internets". Mit dem Telefon oder dem Pkw lesen wir keine Zeitung, recherchieren wir keine Informationen, schauen uns keine Produkte an und veröffentlichen wir keine Kommentare. Normalerweise schreibt niemand mit, von welchen Rufnummern er angerufen oder von welchen Pkws er aufgesucht wird. Genau diese minuziöse Verhaltensprotokollierung wird aber im Internet praktiziert.
Eine identifizierte IP-Adresse ermöglicht zwar für sich genommen noch keinen unmittelbaren Rückschluss auf Gesprächspartner. In Verbindung mit Internet-Nutzungsdaten, die staatliche Stellen ohne richterliche Anordnung bei Internetanbietern wie Google anfordern können (§ 15 Abs. 5 S. 4 TMG), lässt sich mit einer identifizierten IP-Adresse aber sogar der Inhalt der Telekommunikation einer Person nachvollziehen, also wer wonach im Internet gesucht, sich wofür interessiert und welchen Beitrag veröffentlicht hat. Information und Meinungsäußerung ohne Furcht vor Nachteilen werden durch eine IP-Vorratsdatenspeicherung unmöglich. Daneben wird in die meisten E-Mails die IP-Adresse des Absenders aufgenommen, ohne dass man einfach eine Unterdrückung dieser "Rufnummernübermittlung" wählen könnte. Durch eine IP-Vorratsdatenspeicherung werden Meinungsäußerungen per E-Mail ohne Furcht vor Nachteilen unmöglich. Schließlich ermöglichen es IP-Adressen gerade beim mobilen Internetzugang, Bewegungsprofile zu erstellen, weil aus der jeweiligen IP-Adresse der ungefähre Standort des Nutzers ermittelt werden kann.
Einige Internet-Zugangsanbieter speichern die Zuordnung von IP-Adressen "aus betrieblichen Gründen" einige Tage lang auf Vorrat. Die Zulässigkeit dieser Praxis ist aber Gegenstand laufender Gerichtsverfahren und bereits von mehreren Gerichten rechtskräftig verneint worden. Derzeit kann man sich vor einem Bekanntwerden sensibler Informationen über die eigene Internetnutzung durch Inanspruchnahme eines nicht auf Vorrat speichernden Internet-Zugangsanbieters (z.B. Freenet, Hansenet) schützen. Im Fall einer allgemeinen Zwangsspeicherfrist wäre dies nicht mehr möglich. Datenschutz durch marktwirtschaftlichen Wettbewerb ist eine liberale Lösung, die ein Speicherzwang auslöschen würde.
Eine allgemeine IP-Vorratsdatenspeicherung träfe junge Menschen und zukünftige Generationen, deren privater und beruflicher Alltag sich zu einem immer größeren Teil im Internet abspielt, in ungleich gewaltigerem Ausmaß als internetfernere Generationen. Sie ermöglichte es Staatsbeamten, einen bislang ungeahnten Teil unseres Privat- und Berufslebens aufzudecken. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: Es handelte sich um einen "besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt". Die anlasslose Speicherung von Internet-Verbindungsdaten ist "geeignet, ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann", nämlich in allen Bereichen, in denen das Internet zum Einsatz kommt.
Strafverfolgung funktioniert ohne Vorratsdatenspeicherung
Der von dem Bundesjustizministerium erarbeitete Vorschlag einer flächendeckenden Internet-Verbindungsdatenspeicherung, der auch für viele FDP-Abgeordnete völlig überraschend kam, basiert auf Angaben des Bundeskriminalamts, wonach im vergangenen Jahr 830 von 983 (84,4%) durch das BKA angeforderte Auskünfte über die Identität des hinter einer IP-Adresse stehenden Anschlussinhabers nicht erteilt worden seien, weil Internet-Zugangsanbieter nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine Verbindungsdaten mehr speicherten.
Diese Zahlen des Bundeskriminalamts werfen jedoch mehr Fragen auf als sie beantworten: Inwieweit beruhten erfolglose Anfragen auf Verzögerungen seitens des Bundeskriminalamts bei der Anforderung von Auskünften? Waren Anfragen des Bundeskriminalamts zu Zeiten der Vorratsdatenspeicherung nicht ebenso häufig erfolglos? Wie häufig wurden Ermittlungsverfahren trotz erfolgreicher Datenabfrage folgenlos eingestellt und sind erteilte Auskünfte mithin im Ergebnis ohne Nutzen? Diese und sieben weitere Fragen richtete der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung an Bundeskriminalamt und Bundesinnenministerium - nicht eine Frage wurde beantwortet. Ohne Antworten auf die genannten Fragen können relevante Schlüsse aus den Zahlen des Bundeskriminalamts nicht gezogen werden.
Die Angaben des Bundeskriminalamts sind nicht aussagekräftig. So betrafen 147 der ergebnislosen Auskunftsersuchen des BKA beispielsweise Internetverbindungen, die im Zeitpunkt der Anfrage (25.05.2010) länger als sechs Monate zurück lagen (Zeitstempel: 29.05.2009-11.09.2009) und deswegen selbst im Fall einer sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherung ergebnislos geblieben wären. Dr. Michael Kilchling vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg hat die BKA-Zahlen mit den Worten kommentiert: "Für eine seriöse wissenschaftliche Stellungnahme fehlt jede Basis".
Die BKA-Zahlen betreffen nur einen sehr kleinen und nicht repräsentativen Ausschnitt aus der Kriminalitätswirklichkeit. 74,4% der in die BKA-Zahlen eingeflossenen, erfolglosen Anfragen zu IP-Adressen galten der Verfolgung der Verbreitung, des Erwerbs oder des Besitzes kinder- und jugendpornographischer Schriften, weil sich die Recherchestelle ZaRD des BKA schwerpunktmäßig damit befasst. Nur 3% der insgesamt an staatliche Stellen erteilten Auskünfte werden aber zur Strafverfolgung wegen pornografischer Schriften erteilt. Nicht mehr als 6.092 von 6.054.330 im Jahr 2009 polizeilich registrierten Straftaten betrafen die Verbreitung pornographischer Schriften im Internet, also gerade einmal 0,1% aller bekannten Straftaten. Die FDP darf vor dem Totschlagargument "Kinderpornografie" nicht kapitulieren, sondern ist den 49 Mio. Internetnutzern in Deutschland eine sachliche Auseinandersetzung auch mit diesem Thema schuldig.
Der Vorschlag einer flächendeckenden Vorratsspeicherung von Internet-Verbindungsdaten lässt die Eigenheiten des Internets völlig außer Acht. Aus einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts im Auftrag des Bundesjustizministeriums ist bekannt, dass 72% der Ermittlungsverfahren mit erfolgreicher Verbindungsdatenabfrage gleichwohl eingestellt wurden. Bei IP-Adressen ist selbst im Fall einer Vorratsdatenspeicherung eine Identifizierung des Täters nicht möglich. In vielen Fällen verwenden Straftäter Internet-Cafés, offene Internetzugänge (WLAN), Anonymisierungsdienste, öffentliche Telefone, unregistrierte Handykarten usw. Laut einer Umfrage nutzen schon 12,8% der Internetnutzer einen Anonymisierungsdienst, weitere 33,6% beabsichtigten dies in Zukunft. Ein Anonymisierungsdienst ersetzt die IP-Adresse des Kunden durch eine andere, nicht rückverfolgbare IP-Adresse. Solche Dienste werden für ein geringes monatliches Pauschalentgelt in Deutschland, Europa und weltweit legal angeboten. Eine seriöse Rechtspolitik setzt auf Strafverfolgungsmaßnahmen, die einen ernsthaften Beitrag zur Aufklärung von Straftaten leisten. Damit muss eine Vorratsdatenspeicherung bei Internet-Zugangsanbietern, die auf vielfältige Weise schon mit geringem Aufwand umgangen werden kann, ausscheiden.
Eine moderne und zukunftsfähige Internetpolitik setzt Internetnutzer keinen Überwachungsmaßnahmen aus, die bei vergleichbaren Tätigkeiten außerhalb des Internet unbekannt sind. Wer außerhalb des Internets Bücher liest, fernsieht oder CDs tauscht, hinterlässt keine identifizierbaren Spuren. Es gibt keinen Grund, weshalb dies im Internet anders sein sollte. Es ist nicht zu rechtfertigen, dass Anrufe mit unterdrückter Rufnummernanzeige bei Telefon-Flatrates ebenso spurenlos möglich bleiben sollen wie postalische Meinungsäußerungen ohne Absender und mündliche Äußerungen gegenüber Unbekannten, dass einzig im Internet aber potenziell jede E-Mail und jeder Kommentar anhand einer auf Vorrat gespeicherten IP-Adresse identizifierbar bleiben soll.
Im Internet begangene Straftaten werden auch ohne Vorratsspeicherung von Internet-Zugangsdaten deutlich häufiger aufgeklärt als außerhalb des Internet begangene Straftaten. Die ersten Zahlen für das Jahr 2010, also im Wesentlichen nach dem Ende der Vorratsdatenspeicherung, belegen: Im Jahr 2010 wurden in Nordrhein-Westfalen auch ohne Vorratsdaten fast zwei von drei Internetdelikten aufgeklärt (64,4%). Damit waren im Internet begangene Straftaten auch ohne Vorratsdatenspeicherung deutlich häufiger aufzuklären als außerhalb des Internet begangene Straftaten (49,4%). Auch die Verbreitung von Kinderpornografie wurde nach dem Ende der Vorratsdatenspeicherung deutlich häufiger aufgeklärt (60,8%) als außerhalb des Internet begangene Straftaten. Vor diesem Hintergrund besteht keinerlei Rechtfertigung für ein Anonymitätsverbot gerade im Internet.
Dass die Speicherung nur der Daten von Verdächtigen eine wirksame Verfolgung auch von Internetdelikten ermöglicht, zeigt die Praxis vieler Staaten weltweit. Sicherlich will niemand ernsthaft behaupten, dass in Staaten wie Österreich, Schweden oder Kanada das Internet ein rechtsfreier Raum sei, weil Internet-Verbindungsdaten dort wie in Deutschland mit Verbindungsende zu löschen sind.
Umgekehrt droht eine IP-Vorratsdatenspeicherung die Strafverfolgung im Internet massiv zu beeinträchtigen. Schon die Einführung der letzten Internet-Vorratsdatenspeicherung im Jahr 2009 führte dazu, dass 46,4% aller Internetnutzer Anonymisierungsdienste nutzten oder nutzen wollten und 24,6% öffentliche Internet-Cafés. Im Ergebnis war trotz sechsmonatiger IP-Vorratsdatenspeicherung nur ein geringerer Teil der registrierten Internetdelikte (75,7%) aufzuklären als noch im Vorjahr ohne IP-Vorratsdatenspeicherung (79,8%)! Eine IP-Vorratsdatenspeicherung führt zu Vermeidungsverhalten, welches die Verhinderung und Verfolgung selbst schwerer Straftaten erschwert. Denn Vermeidungsmaßnahmen können zugleich verdachtsabhängige Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen vereiteln, wie sie ohne Vorratsdatenspeicherung noch möglich sind. Dadurch entfaltet eine Vorratsdatenspeicherung auf Gefahrenabwehr und Strafverfolgung kontraproduktive Wirkungen und verkehrt den erhofften Nutzen der Maßnahme offenbar in sein Gegenteil.
IP-Vorratsdatenspeicherung ist schädlich für Deutschland
Auf der anderen Seite hätte eine verdachtslose Vorratsspeicherung von Internet-Verbindungsdaten massive Nachteile für Bürger, aber auch für Unternehmen, Ärzte, Rechtsanwälte, Psychologen, Beratungsstellen und viele mehr zur Folge: Im Zuge einer IP-Vorratsdatenspeicherung würden ohne jeden Verdacht einer Straftat Informationen gesammelt, die die Rückverfolgung praktisch jeden Klicks und jeder Eingabe im Internet von über 80 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern ermöglichen würden.
Der Vorschlag einer Vorratsspeicherung von IP-Adressen lässt auch vollkommen die technische Entwicklung außer Acht. Mit der ab Ende 2011 geplanten Umstellung des Internets auf das neue Adress-System "IPv6" droht die individuelle Verfolgbarkeit jedes unserer Online-Schritte über lange Zeiträume hinweg. Denn die neuen Internet-Adressen verändern sich fast nie - im Gegensatz zu der derzeitigen, veränderlichen Nummernzuteilung. Mit einer einzigen polizeilichen Abfrage der IP-Adresszuordnung und nachfolgenden Anfragen an die privaten Anbieter nach Logdateien kann künftig auf Monate hinaus ein Online-Leben nachvollzogen werden. Aus Gründen des Datenschutzes ist es dringend geboten, weiterhin eine häufig wechselnde Vergabe vorzuschreiben. Der Vorschlag einer Vorratsdatenspeicherung geht genau in die falsche Richtung.
Besonders Sorgen macht uns, dass die FDP im Bereich des Internetzugangs erstmals eine Abkehr von dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verdachtsabhängigkeit von Ermittlungsmaßnahmen und einen Einstieg in die Logik einer vorsorglichen Massenerfassung Unschuldiger ins Blaue hinein vollziehen würde, indem sie eine flächendeckende Informationssammlung über Verhalten der gesamten Bevölkerung erstmals als notwendig und verhältnismäßig anerkennen würde. Ist dieser Damm einmal gebrochen und ein Präzedenzfall geschaffen, dann könnte die FDP dem Hunger von Sicherheitsideologen nach weiteren vermeintlich "unverzichtbaren" Informationen über die gesamte Bevölkerung (z.B. Telefonverbindungsdaten und -standortdaten bei Flatrates, Reisedaten, Büchereidaten, Bestelldaten, Internet-Nutzungsdaten) zukünftig keinen grundsätzlichen Einwand gegen anlasslose Totalspeicherungen mehr entgegen setzen.
Eine IP-Vorratsdatenspeicherung würde Anbieter und deren Kunden schon wegen der hohen Sicherheitsanforderungen Millionen von Euro kosten. Um diese Kosten zu vermeiden, besteht die Gefahr, dass die Anbieter einfach auf der Grundlage des § 100 TKG ohne Sicherheitsvorkehrungen auf Vorrat speichern, um die Daten auch für eigene Zwecke und zur millionenfachen Auskunfterteilung an Private (§ 101a UrhG) verwenden zu können. Ungelöst ist auch die Frage, wie für die vom Bundesverfassungsgericht angesprochenen, auf besondere Vertraulichkeit angewiesenen Verbindungen im Internetbereich ein grundsätzliches Übermittlungsverbot vorgesehen werden soll. Internetanbieter können nicht wissen, ob eine Internetverbindung der anonymen Kontaktaufnahme zu Beratungsstellen oder Journalisten gedient hat.
Dementsprechend ist der Vorstoß des Bundesjustizministeriums unter anderem bei dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, dem Deutschen Journalistenverband, dem Chaos Computer Club, der Neuen Richtervereinigung, dem LSVD und dem Verband der deutschen Internetwirtschaft (eco) auf Ablehnung gestoßen.
Sexuellem Kindesmissbrauch wirksam begegnen
Dem Bundesjustizministerium zufolge soll eine Rückverfolgbarkeit jeder Internetnutzung "insbesondere zum Vorgehen gegen Kinderpornografie" geschaffen werden. Das Ziel, Kinder zu schützen und sowohl ihren Missbrauch als auch dessen Dokumentation zu verhindern, stellen wir keineswegs in Frage. Alle hierzu geeigneten, erforderlichen und angemessenen Mittel, die nicht mehr schaden als sie nutzen, müssen eingesetzt werden. Gerade wegen der hohen Bedeutung der Rechte von Kindern und der Abscheulichkeit ihres Missbrauchs aber dürfen dringend benötigte Ressourcen nicht für wirkungslose oder gar kontraproduktive Maßnahmen verschleudert werden. Sexuell missbrauchte Kinder dürfen nicht politisch ein zweites Mal für Vorhaben missbraucht werden, die in Wahrheit keinen Beitrag zum Kinderschutz leisten. Nach unserer Überzeugung ist genau dies bei einer generellen und pauschalen Vorratsspeicherung der Identität vollkommen unverdächtiger Internetnutzer der Fall.
Eine Vorratsdatenspeicherung ist ungeeignet zum Schutz von Kindern
Eine Vorratsspeicherung der IP-Adressen Unverdächtiger ist zum Schutz von Kindern denkbar ungeeignet, wie an vielen Stellen offengelegt und von Experten aus den unterschiedlichsten Bereichen mehrfach bestätigt worden ist. Eine Vorratsdatenspeicherung hatte weder in Deutschland noch hat sie im Ausland irgend einen messbaren Einfluss auf die körperliche und seelische Unversehrtheit missbrauchter Kinder.
Zunächst einmal geht die strafrechtliche Verfolgung von "Kinderpornografie" von vornherein an dem größten Teil des Problems sexuellen Kindesmissbrauchs vorbei. Der Anteil von Kinderpornografiedelikten an allen polizeilich bekannten Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist mit 7% gering. Nur ausnahmsweise kann Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs durch Ermittlungen wegen kinderpornografischer Darstellungen geholfen werden. Laut Kriminalstatistik werden nicht mehr als 1% der polizeilich registrierten Fälle von Kindesmissbrauch überhaupt fotografisch dokumentiert, meist von Familienmitgliedern oder nahen Verwandten. Den Hauptteil der Straftaten im Bereich des sexuellen Missbrauchs begehen nicht Pädophile, die sich für Kinderpornografie interessieren können, sondern Täter, die sich an ihrem Opfer als Ersatz für Sexualkontakt mit Erwachsenen vergehen. Überdies werden neun von zehn Fällen von Kindesmissbrauch und sogar 98% der Fälle familiären Missbrauchs von Kindern der Polizei nie bekannt. Im Dunkelfeld kann Strafverfolgung von vornherein nicht weiter helfen. Es kommt hinzu, dass Kindesmissbrauch nicht identisch ist mit Strafbarkeit. Vernachlässigung und nicht-sexueller Missbrauch kann ebenso schwerwiegende Folgen für Kinder haben, auch wenn er nicht strafbar ist.
In der Medienwirkungsforschung und sonstigen Wissenschaft ist umstritten, ob die Verfügbarkeit von Darstellungen sexuellen Missbrauchs überhaupt das Risiko eigener Übergriffe der Konsumenten erhöht oder es umgekehrt durch Eröffnung eines "Ventils" für Pädophile senkt. Nach Angaben des renommierten Berliner Krankenhauses Charité kann nach gegenwärtigem Stand der Forschung nicht abschließend beurteilt werden, inwiefern der Konsum kinderpornografischer Materialien den Wunsch nach Realisierung eines tatsächlich direkten sexuellen Kontaktes mit einem Kind verstärkt. Der Klinik zufolge ist Pädophilie fester Bestandteil der Persönlichkeit von geschätzt 200.000 Menschen in Deutschland und nicht "wegzutherapieren". Therapieziel der Charité ist vielmehr, dass die pädophile Neigung der Betroffenen nur noch in deren Fantasie ausgelebt wird - dies kann um der Sicherheit von Kindern willen nicht verboten oder geächtet werden. In der Praxis soll es nach der Aufhebung oder Lockerung von Kinderpornographieverboten in Tschechien, Dänemark und Japan zu einem Rückgang der Kindesmissbrauchsfälle gekommen sein. Die faktisch erhöhte Verfügbarkeit von Darstellungen sexuellen Missbrauchs durch das Internet in Deutschland ist ebenfalls mit einem Rückgang der Fälle von Kindesmissbrauch einher gegangen. 2009 registrierte die Polizei die niedrigste Zahl von Kindesmissbrauchsfällen seit 1987. Die Häufigkeit solcher Fälle geht bereits seit den 1950er Jahren deutlich zurück.
Noch zweifelhafter ist, ob der Versuch einer Intensivierung der schon heute wirksamen strafrechtlichen Verfolgung des Austauschs kinderpornografischer Darstellungen in Deutschland den Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen erhöhen kann. Jedenfalls ist nicht belegt oder auch nur plausibel, dass gerade eine IP-Vorratsdatenspeicherung auch nur ein Kind vor sexuellem Missbrauch schützen könnte. Weder aus Deutschland noch aus einem anderen Staat der Welt ist bekannt, dass die Zahl von Missbrauchsfällen nach Einführung einer Vorratsdatenspeicherung zurückgegangen wäre. Bei den ausführlichen Diskussionen des Runden Tisches der Bundesregierung zu sexuellem Kindesmissbrauch ist eine Vorratsdatenspeicherung zu Recht von keiner Arbeitsgruppe empfohlen worden. Wir sind zwar der Meinung, dass der Staat zum Schutz von Kindern für ein ernsthaftes Entdeckungsrisiko sorgen muss, um potenzielle Täter von entsprechenden Straftaten abzuschrecken. Werden auch ohne Vorratsdatenspeicherung die meisten Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs und des Austauschs von Kinderpornografie aufgeklärt, ist diese Abschreckungswirkung aber ausgeschöpft. Es gibt keinen Beleg dafür und ist kriminologisch unwahrscheinlich, dass eine - unterstellt - um einige Prozentpunkte höhere Aufklärungsquote die Entscheidung potenzieller Täter für oder gegen einen Kindesmissbrauch beeinflussen könnte. Tatsächlich ist eine höhere Aufklärungsquote nicht zu erwarten. Die Berliner Charité hat festgestellt, dass Konsumenten von Kinderpornografie im Umgang mit Computern geübt sind. Geübte Computernutzer können eine IP-Vorratsspeicherung bei ihrem Internet-Zugangsanbieter aber jederzeit durch Zwischenschaltung eines in- oder ausländischen Anonymisierungsdienstes ausschalten, weshalb eine IP-Vorratsspeicherung gerade in diesem Bereich aussichtslos ist. Nach Einführung einer sechsmonatigen IP-Vorratsdatenspeicherung in Deutschland zum 01.01.2009 fiel die Aufklärungsquote im Bereich der Verbreitung pornographischer Schriften über das Internet von zuvor 87,5% auf 83,8%.
Anonyme Telekommunikation schützt Kinder
Anonyme Internetzugänge sind nicht Ursache sexuellen Missbrauchs, sondern wichtige Voraussetzung dessen Bewältigung. Gerade für Missbrauchsbetroffene ist es häufig hilfreich, im Schutz der Anonymität ohne Angst vor Bloßstellung relativ frei über den erlittenen Missbrauch sprechen und sich austauschen zu können. Eine unterschiedslose IP-Vorratsdatenspeicherung würde Opfern und potenziellen Opfern sexuellen Missbrauchs massiv schaden, indem sie tausenden von Opfern und auch Tätern den Zugang zu anonymen Beratungs-, Selbsthilfe- und Therapieangeboten verschließen würde. Gerade im Bereich des sexuellen Missbrauchs sind Opfer und Täter meist nur im Schutz absoluter Anonymität bereit, sich zu informieren und Hilfe anzunehmen, da sie andernfalls soziale Ächtung oder - bei Tätern - strafrechtliche Verfolgung befürchten. Beispielsweise bietet die Berliner Charité nicht justizbekannten, hilfesuchenden Pädophilen die Möglichkeit einer vollkommen anonymen Therapie, um (weitere) Übergriffe zu verhindern. Therapiewillige können sich unter anderem per E-Mail anonym melden. Eine Rückverfolgbarkeit jeder E-Mail an die Charité anhand der IP-Adresse des Absenders würde die Therapie potenzieller Täter und damit den Schutz deren potenzieller Opfer auf das Spiel setzen. Eine Einschränkung der Möglichkeiten anonymer Hilfe vertieft das Leiden von Opfern und führt, wo die Therapie von Tätern vereitelt wird, zu weiterem Kindesmissbrauch. Es ist unverantwortlich, den Wunsch von Strafverfolgern nach Überführung möglichst noch des letzten Delinquenten über den Schutz und das Wohl von Kindern zu stellen.
Auch der Strafverfolgung selbst würde eine IP-Vorratsdatenspeicherung schaden: Nicht ohne Grund ermöglichen die meisten Internet-Beschwerdestellen in Europa anonyme Anzeigen kinderpornografischer Inhalte. Wer auf solche Inhalte stößt, ist wegen des Risikos sozialer Ächtung oder strafrechtlicher Verfolgung meist nur im Schutz absoluter Anonymität bereit, dies zu melden. Die Anonymität als zentrale Voraussetzung von Anzeigen kinderpornografischer Darstellungen im Internet entfiele durch eine IP-Vorratsdatenspeicherung.
Wirksamer Kinderschutz: Retten statt Mitschreiben!
Der richtige Weg, um sexuellem Missbrauch und dessen Dokumentation wirksam entgegen zu treten, ist nach unserer Überzeugung die Förderung von Präventionsmaßnahmen und -projekten, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist. Der Fokus sollte dabei auf Maßnahmen gegen Missbrauch gelegt werden, der vor Ort im eigenen Umfeld der Zielgruppe geschieht. Sexueller Missbrauch findet in Schulen, in Kindergärten, in Kinderheimen, in Internaten, in Sportvereinen, in Jugendvereinen und in den Familien der Opfer statt, so dass dort zuerst angesetzt werden muss. Angebote einer qualifizierten Therapie sowie eine angemessene Entschädigung der Opfer sexuellen Missbrauchs müssen selbstverständlich sein.
Daneben sind anonyme Beratungs- und Therapieangebote für potentielle Täter im Vorfeld sexueller Übergriffe ein wirksames Mittel zum Kinderschutz. Es ist ein Skandal, dass etwa die Berliner Charité gegenwärtig nur der Hälfte der Pädophilen, die sich freiwillig einer anonymen Therapie unterziehen möchten, einen Platz anbieten kann, dass Krankenkassen diese Behandlung nicht zahlen und dass das Therapieangebot in Kürze mangels Finanzierung ganz auslaufen muss. Dass sich das politische und finanzielle gesellschaftliche Engagement bisher nahezu ausschließlich auf rechtsbekannte und rechtskräftig verurteilte Sexualstraftäter, also auf Täter aus dem Hellfeld richtet, ist ein Fehler. Klinische Erfahrungen zeigen, dass rechtskräftig verurteilte Sexualstraftäter für therapeutische Angebote oft nur noch schwer zugänglich sind, da sie ihr Innenleben aus Angst vor rechtlichen Nachteilen im Strafvollzug vor Therapeuten abschirmen. Kontraproduktiv ist auch das gegenwärtige Klima einer Verteufelung der als solchen unheilbaren Pädophilie, weil dies die Betroffenen von einer Therapie mit dem Ziel eines gefahrlosen Lebens mit ihrer Neigung abhält.
Was Darstellungen sexuellen Missbrauchs angeht, so muss die Identifikation der abgebildeten Opfer an erster Stelle stehen. Daneben sollten die Anstrengungen zur Löschung kinderpornografischen Materials verstärkt werden. Im Zeitalter des Internet ist dazu nur eine internationale Zusammenarbeit aussichtsreich. Die grenzüberschreitende Löschung von Darstellungen sexuellen Missbrauchs bereitet derzeit offensichtlich Probleme. Ziel einer internationalen Zusammenarbeit muss es daher sein, sich völkerrechtlich darauf zu verständigen, die Verbreitung von Inhalten, die den universellen Menschenrechten widersprechen, allgemein zu unterbinden. Insbesondere erscheint ein internationales Abkommen zur grenzüberschreitenden Löschung von Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs sinnvoll. Selbst das 2000 von der UN erarbeitete Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, Kinderprostitution und Kinderpornografie ist gegenwärtig aber von vielen europäischen Staaten noch nicht ratifiziert worden.
An diesen Problemen muss gearbeitet werden, anstatt eine untaugliche und grundrechtswidrige Vorratsspeicherung der Identität vollkommen unverdächtiger Internetnutzer voranzutreiben, die das Risiko von Kindesmissbrauch sogar noch erhöht. Zu Recht spielt eine Vorratsdatenspeicherung bei der ausführlichen Expertendiskussion am Runden Tisch der Bundesregierung zu sexuellem Kindesmissbrauch keine Rolle. Ständige Forderungen nach einer Vorratsdatenspeicherung lenken von den eigentlichen Defiziten bei dem Schutz von Kindern ab, die sich nicht durch plakative Forderungen und für den Staat kostenlose Paragrafen beseitigen lassen. Die Forderung einer Vorratsdatenspeicherung verringert den Antrieb für wirksames Handeln und schadet damit dem Kinderschutz.
Insbesondere vor dem Hintergrund der Debatte um Internetsperren erschüttert uns, dass nun ein FDP-geführtes Ministerium nun mit demselben Totschlagargument "Kinderpornografie" erneut einen massenhaften Grundrechtseingriff rechtfertigen will. Inzwischen ist man sich einig, dass das Löschen von Missbrauchsdarstellungen häufiger als erwartet zum Erfolg führt und Sperren deshalb verzichtbar sind. Auch die Aufklärung des Austauschs kinderpornografischer Darstellungen über das Internet ist nach dem Ende der Vorratsdatenspeicherung in den meisten Fällen erfolgreich. Befürchtungen eines weitgehend "rechtsfreien Raums Internet" haben sich nicht bestätigt. Die Politik muss daher auf das von den Bürgern abgelehnte Mittel einer massenhaften Vorratsspeicherung der Identität vollkommen unverdächtiger Internetnutzer verzichten.
Internetkriminalität – Intelligente Strategien für ein sicheres Netz
Bei 97% der im Internet begangenen Straftaten und 99,8% der insgesamt in Deutschland registrierten Kriminalität handelt es sich nicht um den Austausch kinderpornografischer Darstellungen. Auch jenseits von Kinderpornografie kann die Politik viel tun, um den Schutz vor Kriminalität im Internet zu optimieren. Einige Lösungsansätze existieren bereits, viele neue können erarbeitet werden. Eine IP-Vorratsdatenspeicherung ist allerdings keiner davon: weder für die zu schützenden Internetnutzer noch für unsere Informationsgesellschaft insgesamt.
Dies unterstreicht auch die 2010 eingesetzte Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" des Deutschen Bundestages. Diese wurde nicht zuletzt wegen schlechter netzpolitischer Erfahrungen zu den Zeiten der Großen Koalition im Bund einberufen, um in Zukunft Fehlentscheidungen zu vermeiden. Die Vorratsdatenspeicherung, die vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft wurde, das Zugangserschwerungsgesetz („Netzsperren“), das inzwischen allgemein als nicht zielführend angesehen wird und als Hauptgrund für das Erstarken der Piratenpartei gedeutet werden kann, und auch die Online-Durchsuchung („Bundestrojaner“), die ebenfalls von Karlsruhe einkassiert worden ist, sind Negativbeispiele der Vergangenheit. Die FDP-Bundestagsfraktion hat es nun in der Hand, ob diese unselige Liste erweitert werden muss.
Wie ein besseres Vorgehen gegen Netzkriminalität jetzt schon möglich ist
Es gibt bereits gute Beispiele für modernen Schutz vor Internetkriminalität. Eine Schlüsselrolle spielt hierbei die Prävention, denn 82% aller polizeilich registrierten Internetdelikte sind Betrugsdelikte zulasten von Personen, die sich haben täuschen lassen. Hinzu kommt zunehmend Daten- und Identitätsdiebstahl unter Ausnutzung ungesicherter IT-Systeme (z.B. Trojaner) oder der Sorglosigkeit von Nutzern (z.B. Phishing) zur Vorbereitung von Betrug und anderer Straftaten.
Leicht verständliche Tipps und Anleitungen zum Schutz vor Netzkriminalität (z.B. Weißer Ring) und zur Sicherung des eigenen Computers (z.B. BITKOM) sind bereits entwickelt und veröffentlicht worden. Sie erreichen aber bislang nur sehr wenige Menschen. Wir könnten uns vorstellen, kurze Verhaltensempfehlungen für Erwachsene und Jugendliche als "Beipackzettel" jedem neu verkauften Computer und Smartphone beizulegen.
Software zur Gewährleistung der Sicherheit des eigenen Computers ist bereits entwickelt und veröffentlicht worden. Sie aufzufinden, zu installieren und in Stand zu halten überfordert aber viele Menschen. Sinnvoll erschiene uns eine Hotline, die kostenfreie Beratung bei der Absicherung der eigenen Computer und bei der Beseitigung von Schadprogrammen anbietet. Wir könnten uns auch vorstellen, Hersteller und Anbieter kommerzieller Internetdienste zu verpflichten, gebrauchsfertige Geräte zur Internetnutzung sowie öffentliche Internetdienste so voreinzustellen und in Stand zu halten, dass die Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Unversehrtheit des Systems und der darauf gespeicherten Nutzerdaten dauerhaft nach den anerkannten Regeln der Technik gewährleistet ist (z.B. automatische Sicherheitspatches, Firewall, Schadprogrammerkennung). Der Nutzer muss allerdings stets die volle Kontrolle über Vorkehrungen zu seinem Schutz behalten und diese auch abschalten können.
Bestehende Datenschutzgesetze enthalten wichtige Vorgaben, die die Verfügbarkeit persönlicher Daten für Straftaten reduzieren und dadurch Identitätsdiebstahl und sonstigen Datenmissbrauch verhüten können. Leider läuft die Durchsetzung dieser Vorgaben im Internet weitgehend leer. Wir hielten es für sinnvoll, wenn Wettbewerber, Verbraucherzentralen und Datenschutzverbände das Recht gegeben würde, Datenschutzverstöße kommerzieller Anbieter von Internetdiensten abzumahnen. Auch sollte der Verlust persönlicher Daten durch kommerzielle Anbieter von Internetdiensten einen Anspruch der Betroffenen auf pauschale Entschädigung nach sich ziehen (z.B. 200 Euro pro Person). Schließlich sollte unterbunden werden, dass kommerzielle informationstechnische Produkte zur Verarbeitung personenbezogener Daten so vertrieben werden, dass der Verwender in der Voreinstellung "automatisch" gegen deutsches Datenschutzrecht verstößt ("privacy by design").
Die Aufklärung von Internetkriminalität gelingt bereits jetzt in den meisten Fällen. Gleichwohl bestehen vielfältige Möglichkeiten für eine effizientere Strafverfolgung im Netz: Die Einrichtung leistungsfähiger Spezialdienststellen der Polizei und von Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Verfolgung von Computerkriminalität erscheint sinnvoll. Gefordert werden auch besonders qualifizierte Polizeibeamte und Staatsanwälte für diese Aufgaben, die Entwicklung eines Berufsbildes "Computerkriminalist", die Entwicklung standardisierter Sachbearbeitungsverfahren auf nationaler und die Entwicklung von Standards für IT-Forensik auf internationaler Ebene.
Laut periodischem Sicherheitsbericht ist bei ca. 80% der Ermittlungen wegen Internetdelikten ein Zugriff auf im Ausland vorhandene Informationen notwendig. Sinnvoller als jede nationale Maßnahme erschiene es daher, in rechtsstaatlichem Rahmen und nicht nur auf dem Papier eine unverzügliche, schnelle Sicherung im Ausland gespeicherter Computer- und Verkehrsdaten für nachfolgende Übermittlungsersuchen zu ermöglichen. Solange die Möglichkeiten des gegenwärtigen Rechtsrahmens aus personellen, organisatorischen und finanziellen Gründen nicht annähernd ausgeschöpft sind, darf es keinen Masseneingriff in die Rechte Unschuldiger geben.
Befähigung ist besser als Überwachung, Dialoge vermeiden Paragrafen, informationelle Selbstbestimmung braucht keine Totalprotokollierung. Sich mutig für neue Wege zu öffnen ist der beste Schritt nach vorne, um sich von nicht-funktionalen Wunschvorstellungen zu verabschieden und chancenorientiert das Internet als Zukunft unserer Gesellschaft zu begreifen. Internetnutzer und Strafverfolger, die ernst genommen werden, werden selbstgewählte Sicherheitsvorkehrungen und Verbesserungen mit hoher Akzeptanz aufnehmen. Damit ist die eigentliche Absicht, einen gesellschaftlich getragenen Diskurs über die Information und Kommunikation der Zukunft zu eröffnen, konstruktiv angegangen. Der Schutz von Internetnutzern bekommt endlich die stabile Basis, die den Forderungen nach totaler Rückverfolgbarkeit abhanden gekommen ist.
Medienkompetenzland Deutschland
Medienkompetenz ist der Schlüssel zu Partizipation an der digitalen Gesellschaft und verlangt heute mehr als Medienwissen, Medienkritik und gestaltende Medienproduktion. Die neue Dimension der zu stärkenden Medienkompetenz ist die verantwortungsvolle Mitwirkung an der gesellschaftlichen Entwicklung mittels Medien. Dazu gehört auch das Verständnis und Kommunizieren bewährter Maßnahmen zum Schutz vor und zur Verfolgung von Internetdelikten.
Die Bundesregierung sollte eine nationale Strategie zur Kriminalprävention im Internet entwickeln und die bisher zersplitterten Ministerialzuständigkeiten auf ein Bundesministerium vereinen. Es gilt, eine Offensive für aufgeklärte Internetnutzung zu starten. Ziel muss hierbei vorrangig die Qualifizierung von Lehrenden, Pädagogen und (politischen) Entscheidern sein. Nur so kann schon den Ursachen von Kriminalität entgegengewirkt werden. Es ist ratsam, auf eine breite Beteiligung zu setzen und die bereits von Bund und Ländern geförderten Einrichtungen in die Pflicht zur Mitentwicklung von Konzepten und Inhalten zu nehmen. Dazu sollten Best-Practice-Beispiele aus der bisherigen medienpädagogischen Arbeit aufgegriffen werden. Ein runder Tisch „Medienkompetenz“, der sich auch online transparent abbildet, trägt die besten Ideen für das Medienkompetenzland zusammen. Die geförderten, erfahrenen Institutionen sollten federführend diesen Prozess moderieren. Ergebnis wird ein inhaltlicher Fahrplan sein, der das „Netzpferdchen“ zum Galopp bringen wird und Deutschland mit seiner Bildungsoffensive für ein sicheres digitales Zeitalter verdient herausstellt.
Strafverfolgungsinteressen dürfen nicht zur Chancen-Bremse im Internet werden. Eine einseitig an Gefährdungsszenarien ausgerichtete Politik verhindert eine Verbesserung der Möglichkeiten und zementiert Risiken.
Gemeinsam für Sicherheit im Netz
Bereits das Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums vom Januar 2011 ist in einer intransparenten Weise zustande gekommen. Das Ministerium hat bis heute nicht zu einer Anhörung von Vertretern der Betroffenen in Beruf und Gesellschaft eingeladen. Dies zeigt, dass von Anfang an wenige (oder gar keine) Personen aus dem Netzpolitik- oder Informatikspektrum vertreten waren. Doch das ist elementar, bevor Politik so grundlegend in eine Technikentwicklung eingreift. Entscheidungen dürfen nicht ohne frühestmögliche Beteiligung derjenigen gefällt werden, die sie betreffen. Die Idee einer Rückverfolgbarkeit jeder Internetnutzung "insbesondere zum Vorgehen gegen Kinderpornografie" zeigt, dass über Sinnhaftigkeit und Erfolgsaussichten des Vorhabens nicht transparent mit Internetnutzern als Betroffenen gesprochen worden ist.
Letztlich kann nur erlerntes verantwortungsvolles Handeln von Eltern und Jugendlichen einen tragenden Schutz vor entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten gewährleisten. Dieser Königsweg ist lang und anstrengend – aber nachhaltig. Technische Lösungen können qualifizierte Erziehung nicht ersetzen.
Wir – und auch viele weitere Sachverständige aus der „Online-Welt“ – wollen die politischen Prozesse begleiten, so dass kurz- und mittelfristig gute, funktionierende und sinnvolle gesetzliche Regelungen entstehen können und langfristig die Medienpädagogik Weg und Ziel zugleich ist. Bis diese Prozesse zu Ergebnissen führen, ist der derzeitig gültige JMStV die bessere Alternative.
Wir bitten Sie, wir bitten Euch, die Novelle des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags abzulehnen, wie es auch der Landesparteirat der Grünen seinen Landtagsabgeordneten empfohlen hat. Er würde mehr Schaden als Nutzen anrichten, den Jugendschutz nicht stärken und das Vertrauen der "Netzgemeinschaft" in die Politik endgültig zerstören.
Mit den besten Grüßen