Bildungs-Chipkarte

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Inhaltsverzeichnis

Die "Bildungs-Chip-Karte"

Diese Seite soll der Sammlung von Informationen über die geplante so genannte "Bildungs-Chipkarte" dienen.

Die genaue technische Ausgestaltung scheint noch unklar zu sein, aber die Begleitung dieses Projekts erscheint aus datenschutztechnischer Sicht wichtig.

Hintergrund

In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 wurde die Art und Weise der Festlegung der Höhe des Regelsatzes, den Arbeitslosengeld-II-Empfänger (Alg-II, umgangssprachlich auch als Hartz-IV bezeichnet) zur Bestreitung der existenznotwendigen Aufwendungen erhalten, als verfassungswidrig verurteilt.

Kinderspezifische Bedürfnisse werden bislang nicht angemessen berücksichtigt; das BVerfG verlangt eine Bedarfsermittlung, die sich an den kindlichen Entwicklungsphasen ausrichtet und den Kindern eine freie Persönlichkeitsentfaltung ermöglicht.

Nachdem das Bundesarbeitsministerium auch nach über einem halben Jahr noch immer damit beschäftigt war, solch einen kindgerechten Bedarf zu errechnen, preschte die derzeitige Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (vormals bundesweit als "Zensursula" und in Niedersachsen als "Röslein" bekannt geworden) mit dem Vorschlag einer bundesweiten Bildungs-Chipkarte nach dem Stuttgarter Modell vor, mit der die Umsetzung der vom BVerfG gestellten Forderungen realisiert werden könne.

Daten & Fakten

  • In der Beispielregion Recklinghausen werden jedes Jahr 400.000 Mittagessen in Kitas und Schulen pro Jahr per Chipkarte abgerechnet. (Quelle: von der Leyen, Interview der Woche 5.9.2010)
  • Etwas genauer hier: "Schüler aus Hartz-IV-Familien zahlen in Recklinghausen nur einen Euro statt 2,50 Euro pro Essen. Rund 400 000 Mahlzeiten werden pro Jahr in den 42 Schulen und Kindergärten bereitgestellt." (Quelle: wz-newsline vom 12.82.10) Demnach bezieht sich die Zahl 400.000 keineswegs auf die Anzahl der bezuschussten Mahlzeiten.
  • In der Beispielregion Stuttgart wurden 50.000 Chipkarten an alle Stuttgarter Kinder ausgegeben. (Quelle: von der Leyen, Interview der Woche 5.9.2010)
  • Die Chipkarte in Stuttgart koste in technischer Hinsicht pro Kind und Jahr 2,59 Euro. (Quelle: von der Leyen, Interview der Woche 5.9.2010). Diese Angabe ist ohne weitere detailierte Erläuterung anzuzweifeln, denn wenn Sie die Bedingungen Stuttgarts zugrundelegen, sind die Grundlagen nicht mit dem vergleichbar, was bundesweit geplant ist.

Modellprojekt Stuttgart

  • nur für Kinder, die nicht älter als 16 Jahre sind
  • bei Familien ab vier Kindern: für jedes Kind
  • bei Familien mit ein bis drei Kinder: für jedes Kind nur dann, wenn Gesamteinkommen der Eltern 60.000 Euro nicht übersteigt (Einkommensnachweis nötig, was ist bei getrennt lebenden Eltern?)
  • Aufladung von 60 Euro pro Jahr
  • zusätzlich gibt es bei Kartenbesitz 20% Ermäßigung auf eine Musikschule und Ermäßigung auf Elternbeiträge der Stuttgarter Waldheime
  • Guthaben kann nicht auf das nächste Jahr übertragen werden, verfällt also zum Jahresende
  • Ausstellung der Karte ohne Antrag, relativ formlos und unbürokratisch

Modellprojekt Recklinghausen

  • Betrifft "nur" Schulverpflegung
  • Reduzierung der Kosten für Kinder von ALG-II-Empfängern von 2,50 auf 1,00 Euro
  • genauere Informationen hier noch nicht bekannt ...

Weitere Informationsgewinnung

Unter anderem, um den von Frau von der Leyen in den Raum geworfenen Wert von "Kosten pro Kind und Jahr von 2,59 Euro" zu hinterfragen habe ich im Bundesarbeitsministerium angerufen. Am 6.9.2010 habe ich das nach acht vergeblichen Versuchen aufgegeben, immerhin aber erfahren, dass für die Fragen zur Bildungs-Chipkarte das Referat II-c-3 zuständig ist, dort namentlich Herr Dr. Groth (030-18527-6939).

Dem habe ich dann am 6.9. per E-Mail zwei Fragen gestellt:

1.)
In wie weit ist das geplante Bildung-Chipkarten-System derzeit bereits ausgestaltet bzw. dessen Infrastruktur bereits festgelegt worden?
Wie sehen die strukturellen und technischen Details des Systems aus?
2.)
In ihrem "Interview der Woche" im Deutschlandfunk vom gestrigen 5.9.2010 sprach Bundesministerin Von der Leyen davon, dass die umgerechneten anteiligen Kosten für die Technik und die Infrastruktur des Bildungs-Chipkarten-Systems Euro 2,59 pro Kind und Jahr betragen würden.
Auf welchem Modell und auf welchen Zahlen fusst diese Angabe?
Können Sie uns die Grundlagen bzw. Hintergründe dieses Wertes mitteilen?

Am 9.9.2010 habe ich es einfach noch einmal telefonisch probiert und Herrn Groth erfreulicherweise erreichen können können.

Bundesarbeitsministerium - Nichts genaues weiß man nicht

Herr Groth war sehr freundlich und sagte, dass er aufgrund von vieler Arbeit noch nicht zur Beantwortung meiner Mail gekommen sei. Auch haben sich die Verantwortlichkeiten verschoben: in Zukuft sei Frau Piepenstock (030-18527-7318) für Fragen zur Bildungs-Chipkarte zuständig.

Zur genauen Ausgestaltung des Bildungs-Chipkarten-Systems könne man noch gar nichts sagen, derzeit liefen einige Machbarkeitsstudien, in diesem Jahr sei wohl aber nicht mehr mit einem Ergebnis daraus zu rechnen.

Zu meiner Frage wegen des 2,59er-Werts betonte er mehrfach, dass Frau von der Leyen in ihrem DLF-Interview nicht von den tatsächlich anstehenden Kosten gesprochen habe. Der Wert entstamme wohl dem statistischen Angaben des Stuttgarter Modells, was nichts mit dem geplanten System zu tun habe. Wie der Wert zustande gekommen ist, wisse er nicht genau. Ich sollte dazu am besten mal in Stuttgart nachfragen. Er nannte mir dort als Ansprechpartner den Sozialamts-Leiter Tattermusch.

Auszug aus dem Interview mit Frau von der Leyen

Hier noch einmal der betreffende Auszug aus dem DLF-Interview:

Ursula von der Leyen: "Was kostet das pro Kind pro Jahr pro Chipkarte? Das ist ein Betrag von 2,59 Euro. Ich glaube, das ist beherrschbar. Und deshalb ist mein Vorschlag, die Bildungskarte, ein ganz modernes Zahlungsmittel, einzuführen. Der Bund würde die Kosten übernehmen."

Hört sich doch so an, als wäre dieser Wert auf das (noch nicht existierende) Konzept des Arbeits- und Sozialministeriums übertragbar - oder?

Sozialamt Stuttgart - offen und kompetent

Nach ein paar Telefonaten erhielt ich die Telefonnummer von Herrn Tattermusch, der mir am 9.9.2010 folgendes erläuterte

Die Kosten in Höhe von Euro 2,59 pro Kind und Jahr beziehen sich ausschließlich auf das Stuttgarter Modell und beinhalten nach Angaben von Herrn Tattermusch:

  • 250 Stück Terminals
  • 14tägige Abrechnung der Akzeptanzstellen (= Stellen mit Terminals)
  • 14tägige Abrechnung des Sozialamts
  • Server-Kosten
  • Insgesamt ca. 55.000 ausgegebene Karten

Fast von alleine kam Herr Tattermusch auf das Thema Datenschutz zu sprechen:

  • Bislang und bis Ende des Jahres wird mit der Firma Sodexo als IT-Projektpartner zusammengearbeitet.
  • Sodexo arbeitet nur mit Karten-Nummern und nicht mit Namen. Die Verknüpfung von Karten-Nummer und Karten-Besitzer sei nur dem Sozialamt möglich.
  • Profile werden nicht erstellt, auch wird nicht im einzelnen überprüft oder gespeichert, welches Kind welche Leistungen in Anspruch genommen habe. Das sei nur theoretisch möglich, wurde aber programmtechnisch nicht umgesetzt.
  • Im nächsten Jahr soll zu Zwecken der Evalutation eine anonymisierte Auswertung der Daten von 2010 erfolgen.
  • Bei Kartenverlust wird die verlorene Kartennummer registriert und gesperrt. Wird diese Karte dann noch einmal in ein Kartenterminal eingeführt, sorgt ein Vernichtungsmechanismus dafür, dass sie entwertet wird.

Auf meine Frage, ob er die bundesweite Einführung einer Bildungs-Chipkarte befürworte meinte Herr Tatterbusch, dass seines Wissens nach zunächst nur Testprojekt vorgesehen sein.

Unabhängig davon würde er persönlich das Chipkarten-System einer Gutscheinregelung oder Bargeldauszahlung immer vorziehen.

Vor- und Nachteile einer Bildungs-Chipkarte

Mögliche Vorteile

  • Armen Kindern kann dadurch mehr als bis jetzt eine Schulspeisung gewährleistet werden.
  • Stigmatisierung kann verhindert werden, wenn der Besitz einer Bildungskarte nicht zwangsläufig mit dem ALG-II-Merkmal verkoppelt ist (gleichzeitig Gefahr)
  • Kinder können u.U. eigenverantwortlich mit dem Geld umgehen (kann auch nachteilig sein)

Mögliche Nachteile

  • Die Einführung eines solchen Systems impliziert den Generalverdacht, dass sich Eltern armer Kinder nicht ausreichend um das Wohl ihrer Kinder kümmern. Unbezweifelbar gibt es solche Fälle. Wahrscheinlich ebenso so sicher ist es aber auch, dass vielen oder den meisten Eltern ihre Kinder, deren Erziehung und Wohlergehen so wichtig ist, dass sie für deren Essen, Erziehung usw. mehr ausgeben, als ihnen eigentlich zur Verfügung steht. Ein Generalverdacht - ausgesprochen oder nicht - fördert das Mistrauen zwischen Eltern und Amt.
  • Mißbrauch von Sach- und Geldleistungen sind nach wie vor möglich. (Handel mit Karten auf dem Schulhof.)
  • Gefahr der Stigmatisierung, wenn nur Kinder von ALG-II-Empfängern in den Besitz einer solchen Karte kommen (kann andersherum auch zum Vorteil gereichen)
  • Je nachdem, wie die IT-Struktur aufgebaut ist, können neue sensible Informationssammlungen entstehen (Wer hat wie oft Nachhilfe bekommen als Kind, Bildungsprofiling, Warum sind sie so oft mit dem Geld ins Schwimmbad oder in den Zoo gefahren ...)
  • Aufbau und Wartung der notwendigen IT-Infrastruktur kosten eine Menge Geld, die in Bildung besser angelegt wäre. (Kartenleser sollen u.u. bis zu 200 Euro kosten (?), IT-Anschlußkosten noch nicht berücksichtigt)
  • Wenn nur noch die Gruppen/Institutionen von der Anwendung der Chipkarte profitieren können, die sich die Anschaffung und den Anschluß von Lesegeräten leisten können, fallen manche Dinge weg. Z.B. Nachhilfe bei Studenten oder soziale Kleinst-Initiativen
  • Bildungschipkarten sorgen für mehr Bürokratie und Lebenskomplexität.
  • Summen in Höhe von einigen -zig Euro pro Monat können weder Nachhilfe noch Musikunterricht finanzieren.
  • Pauschale Summen werden individuellen Ansprüchen nie gerecht.
  • Soziale Probleme lassen sich nie mit technischen Maßnahmen lösen.
  • Das eigentliche Problem, warum Eltern und Kinder überhaupt erst in die ALG-II-Lage geraten, wird bei dieser Diskussion völlig ausgeblendet.

Wie könnte eine gute Lösung aussehen?

  • Neuer staatlicher Grundsatz: Angebot von kostenlosen Schulspeisungen und Ganztagsbetreuung für alle Kinder.
  • Wenn schon Chipkarte, dann datenschutzfreundlich. Das bedeutet: Ohne Erzeugung und Speicherung der Daten, wer welche Leistungen wann in Anspruch genommen hat.
  • Unter Umständen Aufteilung der Leistungssumme in zwei bis vier Kategorien: Bildung, Freizeit, Nachhilfe, Schulspeisung. Dieses könnte garantieren, dass das Geld nicht nur für Zoobesuche oder Schwimmbad ausgegeben wird, wobei diskutiert werden muss, ob auch das mitunter im Einzelfall nicht "das Richtige" für das Kind sein kann und darf...
  • Aufbau einer möglichst einfach, simplen, robusten und leicht zu durchschauenenden Infrastruktur.

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