Tschechisches Verfassungsgericht

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Wir übersetzen hier das Urteil des tschechischen Verfassungsgerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung vom 31.03.2011. Bitte hilf mit!

Quellen:

Urteilsbegründung

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55. Nur in Form einer ergänzenden Bemerkung (obiter dictum) hält der Verfassungsgerichtshof fest, dass ihm durchaus bekannt ist, dass die Entwicklung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien Hand in Hand mit dem Auftreten neuer und ausgeklügelter Mittel zur Begehung von Straftaten geht. Nichtsdestotrotz hat der Verfassungsgerichtshof Zweifel daran, ob eine unterschiedslose und vorsorgliche Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten nahezu jeder elektronischer Kommunikation im Hinblick auf die Intensität des Eingriffs und die Vielzahl der privaten Nutzer elektronischer Kommunikation erforderlich und verhältnismäßig ist. Diese Auffassung ist keine Einzelmeinung, denn die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung war von Anbeginn an einer riesigen Welle von Kritik sowohl seitens Mitgliedsstaaten (z.B. die Regierung von Irland, die Niederlande, Österreich und Schweden verzögerten die Umsetzung lange Zeit und haben die Richtlinie noch immer nicht umgesetzt, obwohl die Kommission ihnen öffentlich ein Gerichtsverfahren angedroht hat), beide Gesetzgeber des Europäischen Parlaments, der Europäische Datenschutzbeauftragte (siehe die Ergebnisse der von der Kommission am 03.12.2010 veranstalteten Konferenz zur Vorratsdatenspeicherung in Brüssel, http://www.dataretention2010.net/docs.jsp) und der Artikel 29-Arbeitsgruppe zum Datenschutz (siehe die unter http://ec.europa.eu/justice/policies/privacy/workinggroup/wpdocs/index_en.htm verfügbaren Stellungnahmen) oder von Nichtregierungsorganisationen (wie Statewatch, European Digital Rights und Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung - AK Vorrat) ausgesetzt. Alle der Vorbenannten streben entweder eine vollständige Aufhebung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und einen Ersatz der unterschiedslosen und vorsorglichen Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten durch andere, angemessenere Mittel (z.B. Quick Freeze, welches die Nachverfolgung und Speicherung nur der Daten bestimmter, im voraus festgelegter Kommunikationsvorgänge ermöglicht) oder eine Abänderung an, besonders in Form der Schaffung ausreichender Schutzvorkehrungen und höherer Anforderungen an die zur Speicherung Verpflichteten zum Schutz der Daten vor Bekanntwerden und Missbrauch Dritter.

56. Der Verfassungsgerichtshof hegt auch Zweifel daran, ob eine unterschiedslose und vorsorgliche Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten ein wirksames Mittel ist, um ihren ursprünglichen Zweck (Schutz vor Gefahren und Verhütung besonders schwerer Straftaten) zu erreichen, besonders wenn sogenannte anonyme SIM-Karten existieren, die von den angefochtenen Bestimmungen nicht betroffen sind und die nach Angaben der tschechischen Polizei in 70% der Fälle zum Einsatz kommen, in denen elektronische Kommunikation zur Begehung von Straftaten eingesetzt wird (siehe "Tschechische Polizei will anonyme Prepaidkarten verbieten", idnes.cz. 18.03.2010). In diesem Zusammenhang kann man auch auf eine Analyse von Zahlen des deutschen Bundeskriminalamts vom 26.01.2011 verweisen, die auf einem Vergleich der Statistiken über schwere Straftaten basiert, welche in Deutschland vor und nach der Annahme von Gesetzgebung zur Vorratsdatenspeicherung begangen wurden, und die zu dem Ergebnis führte, dass die unterschiedslose und vorsorgliche Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten wenig Auswirkungen bei der Verringerung der Zahl der begangenen schweren Straftaten hatte (eine sehr eingehende Analyse und Statistiken sind verfügbar auf http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/426/79/lang,de/). Ähnliche Schlussfolgerungen ergeben sich schon bei einem kurzen Blick auf die Kriminalstatistik der tschechischen Polizei, wenn man die statistischen Daten für die Zeiträume 2008 bis 2010 vergleicht (verfügbar unter http://www.policie.cz/clanek/statisticke-overview-crime-650295.aspx).

57. Abschließend hält es der Verfassungsgerichtshof für erforderlich, Zweifel darüber auszudrücken, ob es wünschenswert ist, Privatpersonen (Anbietern von Internet-, Telefon- und Mobiltelefondiensten, insbesondere Mobiltelefonbetreibern und Internet-Zugangsanbietern) die Befugnis zu geben, Informationen über die Kommunikation sowie die daran Beteiligten (also Daten jenseits derjenigen, zu deren Aufbewahrung das angefochtene Gesetz verpflichtet) auch zur Störungsbeseitigung, zur Geschäftsentwicklung und zu Werbezwecken zu nutzen. Dieser Umstand erscheint dem Gerichtshof deswegen besonders wenig wünschenswert, weil das Gesetz über elektronische Kommunikation und andere Gesetze den Verwendungszweck nicht genau festlegen und nicht detailliert Rechte und Pflichten, den Umfang gespeicherter Daten, Dauer und Mittel der Aufbewahrung sowie Anforderungen an Sicherheits- und Kontrollmechanismen definieren.

58. In Anbetracht des Vorstehenden hat der Verfassungsgerichtshof gemäß § 70 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof beschlossen, die angefochtenen Bestimmungen des § 97 Abs. 3 und 4 des Gesetzes Nr. 127/2005 über elektronische Kommunikation und die Änderung verwandter Gesetze (Gesetz über elektronische Kommunikation) in der gegenwärtigen Fassung sowie die angefochtene Verordnung Nr. 485/2005 über den Umfang von Verkehrs- und Standortdaten, Dauer und Art der Speicherung und über deren Übermittlung an die zuständige Behörde, für nichtig zu erklären. Dieses Urteil ist in die Gesetzessammlung aufzunehmen (§ 58 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof).

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