Volkszaehlung/boykottrecht 4 ss 214/87

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Pflicht zur Ausfüllung des Volkszählungsbogens

OWiG § 116; VZG 1987 §§ 12, 13; BStatG §§ 15, 23

Wer der gesetzlichen Pflicht zur Ausfüllung des Volkszählungsbogens nicht rechtzeitig nachkommt, handelt ordnungswidrig. Die öffentliche Aufforderung, die Ausfüllung zu verweigern, ist als Aufruf zum Boykott der Volkszählung eine Aufforderung zur Begehung von Ordnungswidrigkeiten. (Leitsatz der Redaktion)

OLG Karlsruhe, Beschluß vom 15-03-1988 - 4 Ss 214/87

Zum Sachverhalt:

Im Bußgeldbescheid vom 7. 7. 1987 wurde dem Betroffenen zur Last gelegt, er habe als Mitglied der Fraktion der Grün-Alternativen Liste (GAL) im Gemeinderat und in zwei in der Zeitschrifts-Ausgabe - veröffentlichten Anzeigen zu einer mit Geldbuße bedrohten Handlung, nämlich zu einem Boykott der Volkszählung 1987 aufgefordert. Der Text der Anzeigen lautete: (1) “Sie haben Ihren Volkszählungsbogen noch nicht ausgefüllt und abgegeben? Bloß nichts überstürzen! Ob und wie man/frau antwortet, will gutüberlegt sein. Es ist übrigens eine völlig legale Form des Widerstands, wenn Sie jetzt nicht ausfüllen, etwaige Mahnungen nicht beachten und gegen einen “Heranziehungsbescheid” klagen. Tips geben Ihnen die Volkszählungs-Initiativen. Tel. ...". (2) “Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Parteienprivileg, Recht auf informationelle Selbstbestimmung - keines dieser Rechte wurde beim staatlichen Vorgehen gegen Volkszählungsgegner nicht verletzt. Genau das haben wir den Behörden zugetraut. Und deshalb ist ziviler Ungehorsam nötig. Ihre GAL-Fraktion." Das AG erachtete den Betroffenen zwar als verantwortlich für die Anzeigen, vertrat aber die Ansicht, im ersten Fall habe er nicht zur Begehung mit Geldbuße bedrohter Handlungen, sondern zu legalem Verhalten aufgefordert und im zweiten Fall lasse der Text nicht erkennen, daß der Leser zur Nichtabgabe des Volkszählungsbogens motiviert werden solle.

Das AG Heidelberg sprach den Betroffenen mit Beschluß vom 4. 9. 1987 frei. Die hiergegen form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde der StA hatte - jedenfalls vorläufig - Erfolg.

Aus den Gründen:

... III. Der freisprechende Beschluß des AG kann keinen Bestand haben. Was die oben unter (1) aufgeführte Anzeige betrifft, dringt die Rechtsbeschwerde mit der Sachrüge durch.

1. Der Tatbestand der öffentlichen Aufforderung zu Ordnungswidrigkeiten setzt eine bestimmte mündliche oder schriftliche Erklärung an die Motivation anderer voraus, bestimmte mit Geldbuße bedrohte Handlungen zu begehen (Göhler, OWiG, 8. Aufl., § 116 Rdnr. 4; vgl. zu § 111 StGB: BGHSt 28, 312 = NJW 1979, 1556). Die Aufforderung muß - dem Auffordernden bewußt - den Eindruck der Ernstlichkeit machen und auch machen sollen (v. Bubnoff, in: LK, 10. Aufl., § 111 Rdnr. 8).

Die Feststellung, ob der Text der Anzeige diese Voraussetzungen erfüllt, obliegt dem AG. Denn die Auslegung mündlicher wie schriftlicher Erklärungen ist Sache des Tatrichters (BGHSt 21, 371 = NJW 1968, 309). Das RechtsbeschwGer. ist an sie gebunden, wenn in der vom Tatrichter vorgenommenen Würdigung kein Verstoß gegen Sprach- oder Denkgesetze zu finden ist und wenn die Erwägungen, auf denen die Auslegung beruht, rechtlich fehlerfrei sind und Umstände berücksichtigen, die ihr entgegenstehen könnten (BGHSt 32, 310 = NJW 1984, 1631).

Die im angefochtenen Beschluß gefundene Auslegung der schriftlichen Erklärung ist aus Rechtsgründen freilich nicht zu beanstanden. Das AG hat die in der Anzeige enthaltene Erklärung ohne nähere Erörterung dahin ausgelegt, daß deren Verfasser darauf hinwirke, bei anderen den Entschluß hervorzurufen, ihrer gesetzlichen Pflicht zur Auskunftserteilung nach dem Volkszählungsgesetz 1987 erst nach Erschöpfung der vom Gesetz vorgesehenen Rechtsbehelfe nachzukommen. Diese Wertung verstößt nicht gegen Sprach- oder Denkgesetze; der Aufforderungscharakter bedurfte im angefochtenen Beschluß keiner näheren Darlegung. Denn durch die Verknüpfung der Aufforderung, nichts zu überstürzen und gut zu überlegen, mit der aufgezeigten Handlungsmöglichkeit spricht alles für eine Einwirkung des Erklärenden auf die Motivation des Empfängers, so daß es einer ausdrücklichen Auseinandersetzung damit, ob das Erklärte in der Öffentlichkeit auch so verstanden werde, hier nicht bedurfte.

2. Die rechtliche Würdigung des AG, die so ausgelegte Erklärung fülle das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Aufforderns i. S. von § 116I OWiG aus, begegnet ebenfalls keinen Bedenken. Hier liegt nämlich nicht bloß eine Befürwortung, d. h. ein Gutheißen und Bejahen des angesprochenen Verhaltens als begrüßenswert, notwendig oder unvermeidlich vor, vielmehr wird die Motivation anderer, sich in bestimmter Weise zu verhalten, angesprochen (BGHSt 28, 312 = NJW 1979, 1556). Die Erklärung wurde öffentlich abgegeben, da sie von einem unbestimmten Personenkreis wahrnehmbar war (Göhler, OWiG § 116Rdnr. 5). Jedoch ist die Auffassung des AG, die Erklärung betreffe nicht die Begehung einer mit Geldbuße bedrohten Handlung, nicht frei von Rechtsfehlern. Im Beschluß ist dazu ausgeführt, es steht jedem Bürger offen - es sei also rechtmäßig -, zunächst den Volkszählungsbogen nicht auszufüllen, etwaige Mahnungen nicht zu beachten und vor dem Ausfüllen zunächst die Entscheidung eines Gerichts über die Rechtmäßigkeit des Heranziehungsbescheids herbeizuführen. Das vom Leser der Anzeige geforderte Verhalten ist indessen rechtlich als eine - wie im Falle des § 116 OWiG erforderlich - nach dem Unrechtstypus konkretisierte (BGHSt 32, 310 = NJW 1984, 1681; Rebmann-Roth-Herrmann, OWiG, § 116 Rdnr. 6; Göhler, § 116 Rdnr. 4; Horn, in: SKStGB, § 111Rdnr. 14b) Ordnungswidrigkeit nach §§ 12 VZG 1987, 15 I, 23 I 1, 3 BStatG zu würdigen. Nach diesen Vorschriften handelt ordnungswidrig, wer entgegen bestehender Pflicht eine Auskunft nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig erteilt. Die Verpflichtung des Einzelnen entsteht durch die behördliche Aufforderung zur Abgabe von Erklärungen nach dem Volkszählungsgesetz. Sie stellt einen nach den Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung anfechtbaren Verwaltungsakt dar, da sie für den einzelnen die Pflicht zur Auskunftserteilung begründet und damit einen Einzelfall auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit Rechtswirkung nach außen regelt (§ 35 VwVfG). Die behördliche Bestimmung erlangt mit Bekanntgabe an den Bürger Wirksamkeit, es sei denn, sie wäre nichtig (§ 43 VwVfG).

Die Zuwiderhandlung gegen eine solche Anordnung für den Einzelfall kann freilich bußgeldrechtlich erst geahndet werden, wenn sie ohne Rücksicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels vollziehbar ist, denn nur dann, wenn es nicht dem Belieben des Betroffenen überlassen ist, zunächst die verwaltungsrechtliche Durchsetzung durch das Ergreifen vollzugshemmender Rechtsbehelfe zu verhindern, kann eine bußgeldrechtlich erhebliche Pflicht zur Befolgung der Anordnung angenommen werden (BGHSt 23, 86 = NJW 1969, 2023; BGH, NJW 1982, 189; OLG Karlsruhe, NJW 1978, 116; OLG Hamm, NJW 1980, 1476; BayObLG, NStZ 1986, 36). Ein solcher Fall liegt hier vor, denn sowohl § 12V VZG 1987 wie auch § 15VI BStatG bestimmen, daß Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Aufforderung zur Auskunftserteilung keine aufschiebende Wirkung haben.

Diese gesetzliche Regelung ist mit dem Grundrecht aus Art. 19IV GG vereinbar. Zwar kommt der Rechtsweggarantie auch die Aufgabe zu, irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer staatlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich auszuschließen; andererseits gewährleistet Art. 19IV GG die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen im Verwaltungsprozeß nicht schlechthin (BVerfGE 65, 1 (70) = NJW 1984, 419). Das Ziel einer Volkszählung, eine vollständige Erhebung als Informationsgrundlage für staatliche Entscheidungen zu erlangen, wäre ohne Ausschluß der aufschiebenden Wirkung gefährdet. Das überwiegende öffentliche Interesse rechtfertigt es, den Rechtsschutzanspruch des Bürgers einstweilen zurückzustellen (BVerfGE 65, 1 (71) = NJW 1984, 419).

Die nicht rechtzeitige Befolgung der Auskunftspflicht ist mit Geldbuße bedroht, unabhängig davon, ob der herangezogene Bürger im nachträglich betriebenen Verfahren nach § 80V VwGO durch gerichtlichen Beschluß die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung erreichte. Die aufschiebende Wirkung schließt nämlich die bußgeldrechtliche Ahndbarkeit nur für die während ihrer Dauer begangenen, nicht aber für die während des Bestehens der Gehorsamspflicht, also vor Eintritt der aufschiebenden Wirkung verübten Zuwiderhandlungen gegen den Verwaltungsakt aus (BGHSt 23, 86 = NJW 1969, 2023; Kopp, VwGO, 7. Aufl., § 80 Rdnr. 17; Finkelnburg-Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 3. Aufl., Rdnrn. 497, 498). Auch wenn man den Suspensiveffekt auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts zurückbezieht, bemißt sich die Rechtspflicht allein nach den Verhältnissen zur Zeit der Handlung, kann also durch nachträglich eintretende Umstände nicht aufgehoben werden (Lorenz, DVBl 1971, 169).

Zu keiner anderen Beurteilung führen Erwägungen darüber, ob bei dieser Sachlage ein effektiver vorläufiger Rechtsschutz gewährleistet ist. Zwar bleiben die Verwaltungsbehörden auch dann, wenn sich der Gesetzgeber - wie in § 12V VZG 1987 - angesichts der Besonderheit eines Sachbereichs zu einer generellen Anordnung des Sofortvollzugs entschließt, den verfassungsrechtlichen Bindungen zumal aus Art. 19IV GG unterworfen und haben bei den ihnen obliegenden Ermessensentscheidungen über die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten zu berücksichtigen, daß der verlangte umfassende und wirksame gerichtliche Rechtsschutz illusorisch wäre, wenn sie irreparable Maßnahmen durchführten, bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit geprüft haben (BVerfG, NJW 1987, 2219). Für die Effektivität des vorläufigen Rechtsschutzes bedeutet dies, daß es von Verfassungs wegen naheliegt - jedenfalls dann, wenn ein Antrag nach § 80V VwGO nicht offensichtlich unzulässig oder rechtsmißbräuchlich ist -, von der Verfolgung einer etwa gegebenen Ordnungswidrigkeit nach § 23I BStatG gem. § 47I OWiG abzusehen, soweit die gesetzlich geforderte Auskunft mit Rücksicht auf ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren nicht (rechtzeitig) erteilt wird (BVerfG, NJW 1987, 2219). Daß die Tat, zu deren Begehung öffentlich aufgefordert wird, aufgrund einer Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde möglicherweise nicht verfolgt würde, hindert jedoch die Annahme der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 116I OWiG nicht. Denn Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der mit der Aufforderung erstrebten Auskunftsverweigerung bleiben durch die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes unberührt. Auch die Aufforderung zu einer Ordnungswidrigkeit, von deren Verfolgung im Einzelfall abgesehen wird, beeinträchtigt das durch § 116 OWiG zumindest mitgeschützte Rechtsgut, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Rebmann-Roth-Herrmann, § 116 Rdnr. 2; Göhler, § 116 Rdnr. 2).

Selbst die spätere Aufhebung des für den Bürger verbindlich gewordenen bußgeldbewehrten Verwaltungsakts durch die Widerspruchsbehörde oder das Verwaltungsgericht ließe die Ahndbarkeit einer bereits zuvor begangenen Zuwiderhandlung unberührt; wenn eine bußgeldrechtlich erhebliche Pflicht zur Befolgung der Anordnung besteht, gebieten - gerade § 80II VwGO zu entnehmende - berechtigte Bedürfnisse der staatlichen Ordnung, daß dem Betroffenen zugemutet wird, der Anordnung bei Gefahr bußgeldrechtlicher Ahndung nachzukommen, auch wenn eine Verletzung des sachlichen Rechts infolge der Zuwiderhandlung noch nicht feststeht, weil die Möglichkeit einer Aufhebung des Verwaltungsakts im Rechtsbehelfsverfahren gegeben ist (BGHSt 23, 86 = NJW 1969, 2023; OLG Karlsruhe, NJW 1978, 116). Der rückwirkende Wegfall eines Tatumstandes - hier der Verbindlichkeit der Anordnung - vermöchte die bereits vollendete Zuwiderhandlung nicht zu beseitigen (BGHSt 23, 86 = NJW 1969, 2023; a. A.: Schenke, JR 1970, 449; Arnhold, JZ 1977, 789; Gerhards, NJW 1978, 86; diff. nach dem jeweiligen Zweck der verletzten Norm: Lorenz, DVBl 1971, 170). Nach alledem steht fest, daß der Betroffene - als Beteiligter nach § 14 OWiG - den objektiven Tatbestand des § 116I OWiG erfüllt hat.

3. Da die angefochtene Entscheidung auf dem aufgezeigten Rechtsfehler beruht, war das freisprechende Erkenntnis nach §§ 353I StPO, 79 III OWiG aufzuheben. Die von dem Mangel nicht betroffenen Feststellungen zum äußeren Tathergang konnten hingegen aufrechterhalten bleiben (§§ 353II, 79III OWiG). Ein Fall, in dem der Senat in der Sache selbst entscheiden kann, liegt nicht vor, denn es sind noch Feststellungen zur subjektiven Tatseite zu treffen. Daher war die Sache gem. § 79VI OWiG zu neuer Entscheidung an das AG Heidelberg zurückzuverweisen; es bestand jedoch kein Anlaß, nach § 354II StPO zu verfahren. Das AG wird auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu befinden haben.

IV. Für das weitere Verfahren vor dem AG wird bemerkt, daß die Nachprüfung des Beschlusses - was die unter (2) aufgeführte Anzeige betrifft - einen Rechtsfehler nicht hat erkennen lassen. Die vom AG gefundene Auslegung, wonach sich aus der Erklärung, ziviler Ungehorsam sei nötig, nicht mit der erforderlichen Sicherheit ergebe, daß damit der Erklärungsempfänger bewogen werden solle, den Volkszählungsbogen nicht auszufüllen oder nicht abzugeben, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Eine solche Auslegung verstößt nicht gegen Sprach- oder Denkgesetze und beruht auf zutreffenden Erwägungen. Bleibt aber offen, welches konkrete Tun oder Unterlassen der Verfasser der Erklärung mit seiner Forderung nach zivilem Ungehorsam gemeint hat, so wird das Gemeinte, falls das Verhalten überhaupt mit Geldbuße bedroht ist, dem Unrechtstypus nach nicht hinreichend bestimmt, so daß dem Konkretisierungserfordernis des § 116I OWiG nicht Genüge getan ist.

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