NS-Volkszaehlung: Unterschied zwischen den Versionen
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Die Volkszählungen 1933 und 1939 waren längst nicht die einzigen Erfassungsaktionen des Regimes: Das Arbeitsbuch (1935), das Gesundheitsstammbuch (1936), die Meldepflicht (1938), die Volkskartei (1939) und zuletzt die Personenkennziffer (1944) waren die bürokratischen Vorraussetzungen für ein abgestuftes System von Lohn und Strafe, für "Auslese" und "Ausmerze". | Die Volkszählungen 1933 und 1939 waren längst nicht die einzigen Erfassungsaktionen des Regimes: Das Arbeitsbuch (1935), das Gesundheitsstammbuch (1936), die Meldepflicht (1938), die Volkskartei (1939) und zuletzt die Personenkennziffer (1944) waren die bürokratischen Vorraussetzungen für ein abgestuftes System von Lohn und Strafe, für "Auslese" und "Ausmerze". | ||
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=== Erfassen und Unterdrückung === | === Erfassen und Unterdrückung === |
Version vom 31. Mai 2010, 08:10 Uhr
Die restlose Erfassung
Wer sich über die geschichtlichen Wurzeln der Volkszählung in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus informieren will, kommt an einem Standardwerk nicht vorbei, das auch in der Diskussion um und für den Widerstand gegen die Volkszählung 1987 eine bedeutende Rolle gespielt hat:
Götz Aly und Karl-Heinz Roth: "Die restlose Erfassung: Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus", Rotbuch-Verlag 1984
Aus diesem wichtigen Buch ein paar lesenswerte Auszüge:
Organisatorische Voraussetzungen
Die Volkszählungen 1933 und 1939 waren längst nicht die einzigen Erfassungsaktionen des Regimes: Das Arbeitsbuch (1935), das Gesundheitsstammbuch (1936), die Meldepflicht (1938), die Volkskartei (1939) und zuletzt die Personenkennziffer (1944) waren die bürokratischen Vorraussetzungen für ein abgestuftes System von Lohn und Strafe, für "Auslese" und "Ausmerze".
Erfassen und Unterdrückung
Den Zusammenhang zwischen Erfassen und gewalttätigen Unterdrücken dokumentiert ein Fernschreiben, das der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Heydrich, nach Polen, Danzig, Königsberg und Breslau schickte:
"Betr. Räumung der neuen Ostprovinzen Auf grundsätzlichen Befehl des Reichsführers SS wird die Räumung von Polen und Juden in den neuen Ostprovinzen durch die Sicherheitspolizei durchgeführt. (...) Die Räumung nach dem Fernplan erfolgt nach den Unerlagen der Volkszählung. Nach dieser besitzen alle Personen in den neuen Provinzen ein Exemplar. Das Volkszählungsformular gilt als vorläufiger Ausweis, der zum Aufenthalt berechtigt. Daher müssen vor dem Abtransport allen Personen diese Formulare abgenommen werden. Der Aufenthalt nach der Volkszählung ohne dieses Formular wird in den neuen Provinzen auf Befehl des RFSS (= Reichsführer SS, d. Verf.) mit Erschießen bedroht. Durch diese Maßnahme wird es möglich sein, die Rückkehr der angesiedelten Personen zu verhindern, nachdem eine wirksame Grenzkontrolle zum Gouvernment praktisch kaum voll erreichbar erscheint. Voraussichtlich wid die Volkszählung am 17.12.1939 stattfinden, so daß der große Räumungsplan erst nach diesem Zeitpunkt, also etwa ab 1.1.1940 beginen kann."
Entstehung des Buches, Wesen der Zahlenabstraktion
Auf dem Kongreß "Naziverbrechen gegen die Menschlichkeit in Polen und Europa" in Warschau erzählte uns Martin Hirsch am 16. April 1983 strahlend, das Bundesverfassungsgericht habe die geplante Volkszählung ausgesetzt. Wir haben uns am selben Abend noch entschieden, die gerichtlich verfügte Pause zu nutzen, um diesen historischen Beitrag zu einem aktuellen Thema zu recherchieren und zu schreiben. Auffällig war auf dem Warschauer Kongreß: Über die Mordtaten wurde viel gesprochen, über die differenzierte und effiziente Methodik der Herrschaftsausübung so gut wie nicht. Wir haben uns auf zwei unserer Meinung nach entscheidende Teilbereiche konzentriert: erstens die Methoden, die der Erfassung der Gesamtbevölkerung dienten; und zweitens einige herausragene Sonderaktionen, die die Selektion besonders stigmatisierter Minderheiten vorbereiteten. Nicht nur der im gewöhnlich illegalen Verwaltungsalltag betriebene Datenmißbrauch, sondern gerade der gesetzliche Gebrauch des Zahlenmaterials ist bedenklich. Das scheint uns das entscheidende (von der Datenschützerdiskussion abweichende) Resultat unserer Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zu sein. Liegt nicht schon in der Abstraktion ders Menschen zur Ziffer ein fundamentaler Angriff auf seine Würde? Ist die Versuchung nicht gegeben, den einmal zum Merkmalsprofil geronnenen Menschen zu begradigen, zu bereinigen, wie die Statistiker es nennen? Zählungen fördern die Macht des Objektiven, die Rationalität der Willkür. Auch ohne Mißbrauch. Die verschiedenen Erfassungstechniken sind von den Nationalsozialisten benutzt, weiterentwickelt und nur selten "pervertiert" worden. Es ist unmöglich, die Auswüchse zu beseitigen, ohne den gesamten methodischen Ansatz aufzugeben. Gerade aufgrund der geschichtlichen Erfahrung erscheinen Volkszählungen und -kataster mit ihren scheinbar objektiven Daten und behördlichen Entscheidungshilfen als gegen die gesellschaftliche Phantasie gerichtete Angriffe. Die Zahlenwalze rollt auf die Menschen los. Es geht aber nicht um Bedarfsziffern, es geht um Bedürfnisse. Ein Grundbedürfnis, das wir während unserer Recherchen immer intensiver verspürten, was das nach der Gleichheit unter den Menschen. Das fortschreitende Zählen und Abspalten der jeweils Schwächsten und derer, die in bestimmten sozialpolitischen Konstellationen isoliert sind, dient der systematischen Vertiefung von Ungleichheit, und es löst das gesellschaftliche Leben administrativ auf - in Splitter und Partikel.
Götz Aly und Karl-Heinz Roth, Januar 1984
Parallelen?
Die Volkszählung 2011 ist nicht die einzigen Erfassungsaktion der Bundesregierung: Der elektronische Entgeltnachweis ELENA (2010), die elektronische Gesundheitskarte (ab 2011?), die Meldepflicht (seit 1945, ein neues Bundesmeldegesetz ab 2010?), verschiedenste Zentraldateien (Anti-Terror-Datei 2007, Radikalisierungsdatei 2011?, SIS 1985, VIS 2010 u.v.m.) und zuletzt die Steuer-Identifikationsnummer (2007) sind bürokratische Maßnahmen der wenigen letzten Jahre. Wofür?