Freedom Not Fear 2008/Berlin de/Reden/Roth
Redebeitrag Anne Roth (Demo Freiheit statt Angst, Berlin 11.10.08)
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Vor einem guten Jahr im Sommer, am letzten Tag im Juli, wurde ich morgens um 7 von einem bewaffneten Einsatzkommando der Polizei geweckt. Meinen Freund, Andrej Holm, wurde festgenommen, im Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen und unsere Wohnung wurde 15 Stunden lang durchsucht. Den Schlagzeilen zufolge war Andrej kurzfristig Deutschlands Top-Terrorist.
Wir haben an diesem Tag erfahren, dass er seit einem Jahr verdächtigt wurde, Texte für Anschlagserklärungen der militanten gruppe zu schreiben. Er ist Soziologe und Aktivist, schreibt über Stadtforschung und Gentrifizierung, ist in Mieterinitiativen und sozialen Bewegungen aktiv und er veröffentlicht unter seinem Namen im Netz und auf Papier.
In den Texten, die von ihm und noch anderen Verdächtigen geschrieben wurden, stehen Wörter, die auch in den Anschlagserklärungen vorkommen: Gentrifizierung, Bezugsrahmen, politische Praxis, marxistisch-leninistisch, Reproduktion.
Er war drei Wochen in Untersuchungshaft. Wir haben danach zwei Monate mit der Angst gelebt, dass er jeden Moment wieder festgenommen werden würde. Dann hat der Bundesgerichtshof den Haftbefehl aufgehoben. Der Terrorismus-Vorwurf wurde fallengelassen.
Es wird aber bis heute weiter ermittelt, obwohl uns nicht bekannt ist, dass es irgendwelche Beweise gäbe. Selbst das linguistische Gutachten, das die Texte verglich, fiel vollkommen negativ aus. Seit Januar wird eine DNA-Probe ausgewertet.
Drei andere Männer, die am selben Tag festgenommen wurden, weil einer von ihnen zweimal den als Terrorist verdächtigten Andrej getroffen haben soll, und die dabei erwischt wurden, als sie versuchten, einen Bundeswehr-LKW anzuzünden, stehen seit ein paar Wochen in Berlin vor Gericht. Sie werden evtl. zu jahrelanger Haft verurteilt werden. Das hatte mit Gentrifizierung gar nichts zu tun, und es kam auch niemand dabei zu Schaden, selbst der LKW fährt noch. Trotzdem werden die jetzt nach §129 angeklagt.
Die Paragraphen §129, a und b des Strafgesetzbuches ermöglichen im Namen des Krieges gegen den Terror ein riesiges Ausmaß an Überwachung. Die Betroffenen wissen nichts davon und oft werden die Verfahren eingestellt, nachdem jahrelang Daten gesammelt werden. Natürlich will niemand von einer Bombe in die Luft gejagt werden und wenn wir Meldungen lesen, dass wieder jemand festgenommen wurde, denken die meisten, dass schon etwas dran gewesen sein wird.
Nur selten geht es so aus wie bei Andrej, oder wie bei den beiden Männern, die vor ein paar Wochen am Kölner Flughafen festgenommen wurden. Sie waren arabisch, die Polizei hat einen Liebesbrief als Abschiedsbrief interpretiert und sie mussten nach 10 Tagen wieder freigelassen werden. Auch hier war ein großer Erfolg der Terrorismusbekämpfung vorgestellt worden.
In der Regel erfahren die Betroffenen gar nichts vom Verdacht, und wenn es Festnahmen gibt, erfährt die Öffentlichkeit nicht, wenn sich alles in Luft auflöst. In dem letzten Monaten wurden drei §129a-Verfahren eingestellt. Vorher wurden hunderte von Menschen überwacht. Niemand glaubt, dass die alle gelöscht werden.
Ich habe an diesem Tag im Juli erfahren, dass wir seit einem Jahr durch das BKA überwacht wurden. Unsere Telefone wurden und werden abgehört, zuhause, im Büro, die Handys. Unsere E-Mails werden mitgelesen und der Internetverkehr protokolliert. Wir wurden heimlich auf der Straße fotografiert, es gab Videokameras vor unserem Haus und hinter unserem Haus. Alle, die uns anrufen, schreiben oder besuchen, betrifft das auch, genauso unsere Nachbarn. Mein Telefon wird abgehört, weil ich Andrejs Freundin bin. Es ist nicht auszuschließen, dass wir Wanzen in der Wohnung oder im Auto haben.
Wir wissen, was viele andere spätestens seit der Vorratsdatenspeicherung nur ahnen oder befürchten, aber doch hoffen, dass es sie noch nicht betrifft. Und was für viele mit der Vorratsdatenspeicherung Realität ist. Ich kenne das Gefühl, zu hoffen, in der Masse unterzugehen. Zu hoffen, dass es Dich vielleicht doch nicht betrifft. Und ich habe die Protokolle gelesen, in denen steht, wie das BKA unser Leben interpretiert. Was sie davon halten, wenn ich dieses oder jenes am Telefon zu meiner Mutter sage.
Ich habe erlebt, dass unsere Wohnung ein zweites Mal durchsucht wurde, weil sie ein Telefonat falsch verstanden haben. Wir leben mit dem Wissen, dass immer jemand zuhört. Und nach Indizien sucht. Wir haben gelesen, dass oft auch das, was nicht gesagt wurde, als Hinweis gewertet wird auf das, was sie suchen.
Wir haben versucht, ganz normal weiter zu leben. Wir haben bis heute die Schere im Kopf wenn wir reden, wenn wir schreiben, wenn wir Internetseiten aufrufen. Wenn wir Menschen treffen, wenn wir auf Demonstrationen gehen.
Und ich glaube, dass viele das Gefühl kennen, darüber nachzudenken, ob es klug ist, bestimmte Internetseiten aufzurufen, bestimmte Mails zu schreiben, bestimmte Wörter zu benutzen.
Ich weiß aus Kommentaren unter meinem Blog und vielen Gesprächen, dass die meisten Menschen genau verstehen, was geschieht. Dass mit dem Gespenst Terrorismus Angst gemacht wird, und das daraus immer neue Gesetze gemacht werden, Das BKA-Gesetz samt Online-Durchsuchung wird nächste Woche durch den Bundestag gewunken. Das alberne Argument, dass jede Überwachung von einem unabhängigen Richter geprüft wird, ist schlicht und einfach Quatsch. Wer sich die Verfahren anguckt weiß, dass die Richter alles unterschreiben. Die meisten Menschen wissen das.
In anderen Ländern wird mit Staunen beobachtet, wieviel Protest sich in Deutschland gegen die Orwell'schen Gesetze geregt hat und wieviel wir hier erreicht haben. Wir haben noch viel zu tun, und mit dieser Demo werden wir zeigen, dass wir uns nicht alles gefallen lassen!