Lesen gegen Überwachung \\ Unser Beitrag zum Safer Internet Day

Aus Freiheit statt Angst!
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Texte

  • Weitere Text-Vorschläge (gemeinfrei bzw. Creative Commons):
  • Literaturvorschläge aus dem Bereich Belletristik:
    • Atwood, Margaret: The Handmaid's Tale
    • Bradbury, Ray: Fahrenheit 451. Englische Erstveröffentlichung: 1953 bei Ballentine Books.
    • Brunner, John: Der Schockwellenreiter. München, 1985. Zuerst erschienen als: The shockwave rider, 1975.
    • Brunner, John: Morgenwelt. München, 1980. Zuerst erschienen als: Stand on Zanzibar, 1968.
    • D'Argyre, Gilles: Die Herrschaft des Zufalls. München, 1978. Französisches Original von 1974.
    • Dick, Philipp K.: Der dunkle Schirm. 2003, München. Englisches Original: A scanner darkly, 1977.
    • Dick, Philipp K.: Do Androids Dream of Electric Sheep? 1968 Erscheint in Deutschland unter dem Titel "Bladerunner", Vorlage zum gleichnamigen Kinofilm.
    • Dick, Philipp K.: Eine andere Welt. 2004, München. Englisches Original: Flow my tears the policeman said, 1974.
    • Doctorow, Cory: Little Brother (Creative Commons)
    • Doctorow, Cory: Homeland (Creative Commons)
    • Eggers, Dave: The Circle. 2014
    • Hillenbrand, Tom: Drohnenland. Kriminalroman. 2014
    • Huxley, Aldous: Brave New World. 1932 (Deutsch: Schöne Neue Welt)
    • Kafka, Franz: Der Bau (Creative Commons)
    • Kafka, Franz: In der Strafkolonie (Creative Commons)
    • Kafka, Franz: Der Prozess. Berlin, 1925. Unzählige Ausgaben. (Creative Commons)
    • Lem, Stanislaw: Memoiren, gefunden in der Badewanne. Frankfurt, 1979. Polnisches Original von 1961.
    • Orwell, George: Nineteen Eighty-Four. London, 1949. (Deutsch: 1984)
    • Samjatin, Jewgenij: Wir. 1920. Mittlerweile: unzählige Auflagen.
    • Zeh, Juli: Corpus Delicti. Ein Prozess. Frankfurt am Main 2009. Schöffling und Co.
  • Vorschläge für einen Lesung, die einen größeren Zusammenhang aufzeigt:
    • Glenn Greenwald: Die globale Überwachung (engl. No Place to Hide)
      • insb. aus Kapitel 4 - "Die Gefahren der Massenüberwachung" (siehe Details)
        • S. 243-246, Wichtigkeit der Privatsphäre und Scheinheiligkeit der staatlichen und nichtstaatlichen Datensammler: "Überall auf der Welt versuchen Regierungen mit allen Mitteln, die Bürger davon zu überzeugen, ihrer Privatsphäre nicht zu viel Bedeutung beizumessen. [...] Privatheit ist eine Grundbedingung dafür, ein freier Mensch zu sein."
        • S. 251-253, Überwachung als Kontrollinstrument, die sprichwörtliche 'Schere im Kopf': "In den 1970er Jahren erklärte Michel Foucault, das Prinzip von Benthams Panoptikum sei einer der Grundmechanismen des modernen Staates. [...] Der einzelne richtet sich selbst dazu ab, nur noch in eine Richtung zu denken, die erwartet und verlangt wird."
        • S. 260-261, Methodik der Überwachungsbefürworter: "Die Behauptung, dass eine in die Privatsphäre eindringende Überwachung auf eine Randgruppe beschränkt ist - eine Gruppe von Menschen, die sich etwas zuschulden kommen lassen und es deshalb nicht anders verdient haben -, sorgt dafür, dass die Mehrheit den Machtmissbrauch stillschweigend billigt oder sogar offen gutheißt. [...] Nach Ansicht der Regierung und J. Edgar Hoovers FBI haben sie alle kriminelle Handlungen begangen - sie haben sich in einer Weise politisch betätigt, die die herrschende Ordnung bedrohte."
        • S. 278-279, Illusion der Nichtbetroffenheit (auch heute): "Natürlich haben pflichtbewusste, treue Anhänger des Präsidenten und seiner Politik, brave Bürger also, die nichts tun, was die Aufmerksamkeit der Mächtigen auf sie lenkt, keinerlei Grund, sich vor dem Überwachungsstaat zu fürchten. [...] Doch egal zu welcher Gruppe man gehört - das Gefühl, nicht betroffen zu sein, ist eine Illusion. Das wird deutlich, wenn man sich anschaut, wie stark die Wahrnehmung der Gefahr staatlicher Überwachung von der politischen Einstellung abhängt. Dann stellt man nämlich fest: Wer gestern noch Beifall klatschte, findet sich vielleicht heute schon unter den Kritikern wieder."
        • S. 322-323, Psychologisierung abweichender Meinungen (am Beispiel einer Zeitung): "Die New York Times war auch wegweisend bei der Berichterstattung über Chelsea (damals noch Bradley) Manning. Sie betonte, nicht Überzeugung oder sein Gewissen hätten ihn dazu gebracht, so wichtige geheime Daten zu veröffentlichen, sondern eine Persönlichkeitsstörung und psychische Labilität. [...] In Wirklichkeit setzen sowohl die Einhaltung der Regeln als auch der Verstoß dagegen moralische Entscheidungen voraus, und das eine wie auch das andere offenbart etwas Wichtiges über den betreffenden Menschen. Im Gegensatz zu der allgemein verbreiteten Annahme, radikaler Widerspruch sei Zeichen einer Persönlichkeitsstörung, könnte ebenso gut das Gegenteil wahr sein: Angesichts eines schwerwiegenden Unrechts ist die Weigerung, Einspruch zu erheben, Zeichen einer Charakterschwäche oder moralischen Versagens."
    • Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft (suhrkamp, 1978)
      • Technologiekritik an der "Computerrevolution"
        • S. 54-55: ”Ja, der Computer kam gerade noch rechtzeitig. Aber rechtzeitig wofür? Er kam gerade noch rechtzeitig, um gesellschaftliche und politische Strukturen intakt zu erhalten – sie sogar noch abzuschotten und zu stabilisieren -, die andernfalls entweder radikal erneuert worden oder unter den Forderungen ins Wanken geraten wären, die man unweigerlich an sie gestellt hätte. Der Computer wurde also eingesetzt,um die gesellschaftlichen und politischen Institutionen Amerikas zu konservieren. Ich habe zumindest zeitweise mit dazu beigetragen, sie gegenüber einem gewaltigen Druck in Richtung auf einen Wandel zu stützen und zu immunisieren. Auch in anderen Gesellschaften, die dem Computer erlaubt haben, ernsthaft in ihre Institutionen einzugreifen, ist sein Einfluß im wesentlichen derselbe gewesen; in erster Linien sind hier Japan und Westdeutschland zu nennen. Die Erfindung des Computers stellte eine Teil einer scheinbar stabilen Welt infrage, was bei fast jeder schöpferischen Handlung des Menschen der Fall ist. Und nach dem Ausspruch von Dewey hätte niemand vorhersagen können, was an dessen Stelle treten würde. Aber von den vielen Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Innovation, die er dem Menschen eröffnete, war die verhängnisvollste die, ihm alle Überlegungen in Richtung auf eine wesentliche Veränderung aus dem Kopf zu schlagen. Und für genau diese Möglichkeit hatte der Mensch sich entschieden. Der Eintritt der Computerrevolution und die Begründung des Computerzeitalters sind oft verkündet worden. Aber wenn der Triumph einer Revolution an der Tiefe der gesellschaftlichen Veränderungen gemessen werden soll, die sie mit sich gebracht hat, dann hat es keine Computerrevolution gegeben. Und wie man auch immer das gegenwärtige Zeitalter charakterisieren will, der Computer ist nicht dessen Urheber. Wenn wir lediglich sagen würden, der Computer sei ursprünglich hauptsächlich deshalb eingesetzt worden, um bestimmte Arbeiten auf mehr oder weniger dieselbe Weise wie früher zu erledigen, nur schneller oder aufgrund bestimmter Kriterien effizienter, so hätten wir ihn damit noch nicht von anderen Werkzeugen unterschieden. Nur selten, wenn überhaupt jemals, ist ein Werkzeug gleichzeitig mit einer gänzlich neuartigen Tätigkeit zusammen erfunden worden, die es verrichten soll. Als Symbole fordern uns Werkzeuge jedoch dazu heraus, sie in der Phantasie in andere als ihre ursprünglichen Zusammenhänge einzusetzen. In ihrem neuen Bezugssystem, d.h. als neue Symbole in einer bereits in der Vorstellung fest verankerten Struktur können sie selbst umgestaltet werden und möglicherweise auch die zunächst langfristig erstarrte Struktur umgestalten.” (danach Bsp.: Transformation stationärer Dampfmaschinen in Lokomotive, US-Volkszählung 1951: Transformation von IBM-Lochkarten-Maschinen zunächst in spezielle und später in universelle elektronische Computer wie UNIVAC I; damit Etablierung von Computern, beschäftigt sich dann mit der Schwierigkeit der Erfindung 'neuer Werkzeuge', um dann den Computer einzuordnen und dessen Ambivalenz zu zeigen)
        • S. 63: “In gewissem Sinn ist der Computer ein Werkzeug derselben Art. Er hat dazu beigetragen, die Tür zu neuen Räumen aufzustoßen, und er hat bestimmte gesellschaftliche Institutionen gerettet, die unter dem Andrang einer ständig wachsenden Bevölkerung zu kollabieren drohten. Aber unter seinem Einfluß haben sich auch bestimmte Türen geschlossen, die einmal offenstanden ... ob unwiderruflich oder nicht, das läßt sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Es gibt einen Mythos,wonach heutzutage Computer die wichtigsten Entscheidungen treffen, die früher von Menschen getroffen wurden. Vielleicht gibt es hier und da in unserer Gesellschaft einzelne Fälle dieser Art. Aber die weitverbreitete Vorstellung von Managern, die ihren Computer Fragen von der Form eingeben: 'Was sollen wir jetzt tun?' und dann auf die 'Entscheidung' des Computers warten, ist weitgehend falsch. In Wirklichkeit sieht es so aus, daß die Menschen die Verarbeitung von Informationen, auf denen Entscheidungen gegründet sein müssen, enorm komplexen Computersystemen überlassen haben. Mit wenigen Ausnahmen haben sie sich das Recht vorbehalten, Entscheidungen zu treffen, die auf dem Ergebnis dieser Rechenprozesse beruhen. Damit können Menschen die Illusion aufrecht erhalten, und mehr ist es oft nicht, daß im Grunde sie es sind, die entscheiden. Aber, und das ist meine These, ein Computersystem, das nur bestimmte Arten von 'Daten' zuläßt und das nicht einmal im Prinzip von denen verstanden werden kann, die sich darauf verlassen, ein derartiges System hat viele Türen ein für allemal zugeschlagen, die vor seiner Installation offenstanden.“
    • Zygmunt Bauman, David Lyon: Daten, Drohnen, Disziplin
      • Diskurs zum "Ende der Anonymität", (Un)sicherheit, Macht und Disziplinierung
        • S. 22-25: Theorie der Verflüchtigung und die Rolle der Überwachung/Transparenz - DL: “Und was ist mit der Kontrollgesellschaft und dem Orwellschen 'Big Brother'? Wenn man die Ausbreitung von Überwachungssystemen nicht allein mit den neuen Technologien erklären kann, muß es dann nicht auch um Macht und Machtverteilung gehen? Zumindest in der westlichen Welt is der 'Große Bruder' aus George Orwells Roman 1984 zweifellos die bekannteste Allegorie einer umfassenden, systematischen Überwachung. Alle Macht des Staates liegt hier in den Händen eines Menschen bzw. einer Partei, die den administrativen Apparat samt der in ihm niedergelegten Informationen und Daten als Mittel totaler Kontrolle benutzt. In Orwells 'als Warnung vor den totalitären Potentialen westlicher Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg intendiertem' Roman, schrieb ich anderswo, 'ist der Staat krankhaft machtbesessen und überwacht genaustens noch die alltäglichsten Aktivitäten seiner Bürger'. Orwells Schilderung ist zwar (ebenso wie sein Bekenntnis zu einer heilsamen 'Bescheidenheit') überzeugend, aber sie ist nicht die einzige. Kafkas dunkle Mächte, die einen über alles im unklaren lassen – Wer weiß was über dich? Woher weiß er das? Welche Folgen wird dieses Wissen für dich haben? -, sind wohl die bessere Entsprechung der von Datenbanken dominierten Überwachung der Gegenwart (wie Daniel Solove und andere meinen), aber auch sie verweisen wie der Orwellsche Bruder immer noch auf den Staat als Bösewicht. Noch älter ist die Idee des englischen Utilitaristen und Strafvollzugsreformers Jeremy Bentham, der einen Ort erfand, an dem man sich der Beobachtung nicht entziehen kann, und ihm den aus dem Griechischen abgeleiteten Namen 'Panoptikum' gab. Sein Panoptikum war aber kein fiktionaler, sondern ein architektonischer Entwurf. Und noch mehr als das: Es sollte ein 'moralisches Gebäude' sein und eine Blaupause für die Neugestaltung der Welt. Vor allem das Benthamsche Panoptikum begegnet uns in der wissenschaftlichen Debatte als Inbegriff von Überwachung, nicht zuletzt auch, weil Michel Foucault es gegen Ende des 20. Jahrhunderts als Herzstück dessen begriff, was Baumann dann als 'solide Moderne' bezeichnete. Foucault ging es um die vom Panoptikum bewirkte Disziplinierung der Körper und Seelen, die willige Arbeiter hervorbrachte. Baumann zufolge ist das Panoptikum bei Foucault die 'Schlüsselmetapher moderner Macht'. Für die Insassen des Panoptikums war 'Bewegung [...] unmöglich durch die Überwachung. Sie mußten auf Dauer an ihrem vorgeschriebenen Ort bleiben, weil sie weder wußten noch wissen konnten, wo sich ihre Bewacher – die sich frei bewegen konnten – im Moment aufhielten'. Heute jedoch habe sich diese rigide Fesselung aufgelöst, so daß der gegenwärtige Entwicklungsstand der Moderne (ob sie nun 'flüchtig' ist oder nicht) 'in erster Linie und vor allen Dingen post-panoptisch' sei. Habe man damals unterstellen müssen, daß sich die Bewacher irgendwo innerhalb des Panoptikums aufhielten, so könnten die, die unter den heutigen Verhältnissen an den Hebeln der Macht sitzen, sich jederzeit 'in die absolute Unzugänglichkeit zurückziehen'. Wie Baumann glaube auch ich (wenn auch nicht unbedingt aus denselben Gründen), daß vieles vom Panoptikum abhängt, und ein Aspekt unseres hier vorgelegten Projektes ist es, die bedrängenden praktischen Folgen einer Entwicklung aufzuzeigen,die manchem als abstrakter Gegenstand akademischer Debatten erscheinen mag. Ebenso wie die Kritiker staatlichen Machtüberflusses nach wie vor die Allegorie des 'Großen Bruders' verwenden, taugt das Panoptikum auch heute noch als Bild für viele Überwachungsphänomene im 21. Jahrhundert. Wenn Baumann recht hat, dann ist für die Ära gegenseitiger Verpflichtungen, in der Verwalter und Verwaltete in einer wechselseitigen Beziehung miteinander standen, der Vorhang gefallen, und es hat ein kaum mehr faßbares Drama begonnen, in dem sich die Macht 'mit der Geschwindigkeit elektronischer Signale' bewegt. Das stellt uns vor gewaltige Herausforderungen. Die neuen Formen der Überwachung, die auf Datenverarbeitung beruhen und den Rahmen der von Foucault beschriebenen Disziplinierungsdiskurse längst verlassen haben, bewirken, kurz gesagt, eine neue Transparenz, durch die nicht nur der Staatsbürger als solcher, sondern jeder Mensch in allen Bereichen des Alltagslebens pausenlos überprüft, beobachtet, getestet, bewertet, beurteilt und in Kategorien eingeordnet werden kann. Und zwar völlig einseitig. Während unser Alltag für die uns beobachtenden Organisationen in allen Details transparenter wird, entziehen sich deren Aktivitäten zunehmend unserer Einsichtsmöglichkeiten. Weil die Macht in der flüchtigen Moderne mit der Geschwindigkeit elektronischer Signale strömt, erhöht sich die Transparenz auf der einen Seite, während sie auf der anderen schwindet.“
        • S. 25-26: (Fortsetzung) Soziale Klassifizierungen - DL: “Dahinter muß nicht unbedingt Absicht oder gar eine Verschwörung stecken. Zumindest wird als Grund für die Undurchsichtigkeit der neuen Überwachungsverfahren immer wieder darauf verwiesen, daß sie auf Hochtechnologie und hochkomplexen Datentransfers innerhalb der und zwischen den sie betreibenden Organisationen beruhen. Ebenfalls angeführt wird die Notwendigkeit der Geheimhaltung aus Gründen der 'nationalen Sicherheit' oder zur Wahrung von Betriebsgeheimnissen. Zudem werden in der postpanoptischen Welt der flüchtigen Moderne viele personenbezogene Informationen, die Unternehmen dann so eifersüchtig hüten, tatsächlich von den Betroffenen selbst zugänglich gemacht, indem sie ihr Mobiltelefon einschalten, Einkaufszentren besuchen, Urlaubsreisen buchen und antreten, Entertainmentangebote nutzen oder im Internet surfen. Routinemäßig, achtlos und freiwillig schieben wir unsere Karten ein, geben unsere Postanschrift heraus und zeigen unsere Ausweise vor. Und reiten uns damit natürlich immer tiefer hinein. Denn genau wie das Panoptikum in der soliden Moderne profunde gesellschaftliche und politische Konsequenzen hatte, haben auch die weitgehend postpanoptischen Überwachungssysteme in der flüchtigen Moderne Konsequenzen. Zwar mögen hierbei viele in erster Linie an den Verlust der Privatsphäre denken, doch es gibt weit bedenklichere Folgen. Gewiß darf man den Verlust von Anonymität und Vertraulichkeit nicht kleinreden, doch stellen sich eben auch dringende Fragen der Gerechtigkeit und der Fairneß, der bürgerlichen Freiheiten und der Menschenrechte. Denn heutige Überwachungssysteme bewirken, wie wir noch sehen werden, in allererster Linie soziale Klassifizierungen.“
        • S. 33-34: zukünftige Generationen von Drohnen, Kriegsführung und Daten-Tsunami - ZB: „Die Drohnen der nächsten Generation werden unsichtbar sein, während sie alles um sich herum der Beobachtung zugänglich machen; sie selbst werden unantastbar sein, während sie alles in ihrer Umgebung verwundbar machen. Peter Baker, Professor für Ethik an der United States Naval Academy, meint, daß mit ihren das 'postheroische Zeitalter' der Kriegsführung anbrechen wird; sie werden aber zugleich, wenn man anderen 'Militärethikern' glaubt, die bereits jetzt erhebliche 'Entfernung zwischen der amerikanischen Öffentlichkeit und dem Krieg' vergrößern; es handelt sich also um einen weiteren (den nach der Ersetzung von Wehrpflichtigen durch Berufssoldaten zweiten) Schritt in dem Bestreben, den Krieg so zu führen, daß er für die Nation, in deren Namen er geführt wird, möglichst unsichtbar bleibt (da keiner ihrer Bürger mehr sein Leben riskieren muß) – und sie machen damit das Kriegführen selbst aufgrund des nahezu vollständigen Ausbleibens von Kollateralschäden und politischen Kosten um so einfacher und natürlich auch verlockender. Die Drohnen der nächsten Generation werden alles sehen, während sie selbst verlockend unsichtbar bleiben, und zwar im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne. Niemand wird sich vor dem Beobachtetwerden schützen können – nirgendwo. Auch die Techniker, die die Drohnen in Marsch setzen, werden dann keine Kontrolle mehr über ihre Bewegungen haben und nicht mehr in der Lage sein, irgendwelche potentiellen Beobachtungsobjekte von der Überwachung auszunehmen, so heftig man sie in bestimmten Fällen auch bedrängen mag, genau das zu tun: Die 'neuen verbesserten' Drohnen werden darauf programmiert sein, selbststeuernd umherzufliegen und auf selbstfestgelegten Routen selbstgewählte Ziele anzusteuern. Sobald sie erst einmal in der vorgesehenen Anzahl in Gang gesetzt worden sind, begrenzt allein der Himmel die Menge der Informationen, die sie liefern werden.„
        • S. 35-36: Ende der Anonymität, Soziale Medien, Post-Privacy - ZB: “Was das im Internet sich abzeichnende 'Ende der Anonymität' angeht, liegt die Sache ein wenig anders: Wir verzichten auf unser Recht auf Privatsphäre und lassen uns freiwillig zur Schlachtbank führen. Möglicherweise stimmen wir dem Verlust der Privatsphäre aber auch zu, weil er ein akzeptabler Preis für das tolle Zeug ist, das wir im Tausch dafür erhalten. Oder aber der Druck, unsere persönliche Autonomie dem Schlachthaus zu überantworten,ist, wie bei einer Herde Schafe, derart übermächtig, daß nur außergewöhnlich rebellische, stolze, kämpferische und willensstarke Menschen in der Lage sind, eine ernsthaften Versuch des Widerstandes zu unternehmen. Ob nun so oder so, jedenfalls werden wir – zumindest nominell – vor eine Wahl gestellt, und man offeriert uns wenigstens den Anschein eines Vertrages auf Gegenseitigkeit und ein immerhin formales Recht, gegen mögliche Vertragsbrüche zu protestieren und Klage zu führen: etwas, das einem auf die Drohnen bezogen niemand gewähren kann. Wie dem auch sei, sobald wir einmal 'drin' sind, sind wir unserem Schicksal ausgeliefert. Brian Stelter, der Autor des zweiten Artikels, meint, daß 'die kollektive Intelligenz von zwei Milliarden Internetnutzern zusammen mit den digitalen Fingerabdrücken,die viele von ihnen auf Webseiten hinterlassen, demnächst dazu führen wird, daß praktisch jedes peinliche Video, jedes private Foto und jede taktlose E-Mail seiner bzw. ihrer Quelle zugeordnet werden kann, ob diese Quelle das nun will oder nicht'. Als der Pressefotograf Rich Lam im Sommer 2011 während der auf ein Eishockeyspiel folgenden Straßenunruhen in Vancouver Fotos schoß, brauchte er lediglich einen Tag, um das Paar aufzuspüren und zu identifizieren, das sich (von ihm zunächst unbemerkt) im Vordergrund eines seiner Bilder am Boden liegend leidenschaftlich küßt. Alles Private spielt sich heute potentiell in der Öffentlichkeit ab – und ist damit potentiell für den Konsum durch diese verfügbar; und bleibt auch weiterhin verfügbar, bis zum Ende der Zeit, da das Internet bekanntlich nichts vergißt, das einmal auf einem seiner zahllosen Server gelandet ist. 'Diese Auflösung der Anonymität haben wir den alles durchdringenden Sozialen Medien zu verdanken, billigen Mobiltelefonen mit eingebauter Kamera, kostenlosen Hosting-Seiten für Fotos und Videos, und vielleicht vor allem einem Meinungswandel vieler Leute hinsichtlich der Frage, was öffentlich sein und was privat bleiben sollte.' All jene Technik-Gadgets sind, so erklärt man uns, 'nutzerfreundlich' – obgleich diese Lieblingsvokabel der Werbetexter bei genauerem Hinsehen lediglich besagt, daß da jeweilige Produkt – ähnlich wie ein IKEA-Regal – ohne die tätige Mitarbeit des Nutzers gar keines wäre. Und ohne, so möchte ich hinzufügen, seinen Enthusiasmus und seine Hingabe und seine Jubelrufe. Ein Étienne de La Boétie wäre heute womöglich versucht zu sagen, es handle sich nicht nur um freiwillige Knechtschaft, sondern um eine regelrechte Do-it-yourself-Sklaverei ...“
        • S. 36-38: Angst vor Ausgeschlossenheit - ZB: “Welche Folgerung läßt sich aus diesen Parallelen zwischen Drohnenpersonal und Facebook-Usern ziehen, zwischen zwei Arten von Anwendern also, die anscheinend aus unterschiedlichen Gründen agieren und angeblich von konträren Motiven getrieben werden, aber dennoch eng miteinander kooperieren und ebenso bereitwillig wie hocheffektiv jene Praxis voranbringen, festigen und ausweiten, die Sie, David, so treffend als 'soziale Klassifizierung' bezeichnet haben? Die meines Erachtens bemerkenswerteste Eigenschaft der neuen Formen von Überwachung ist, daß es ihnen mit gutem Zureden oder Zwang irgendwie gelungen ist, gegensätzliche Dinge dazu zu bringen, in Einklang miteinander im Dienste derselben Realität zu arbeiten. Einerseits nähert sich die alte panoptische Strategie ('Nie sollst du wissen, wann wir dich beobachten, damit du dich nie unbeobachtet fühlen kannst') langsam, aber offenbar unaufhaltsam ihrer nahezu universellen Anwendung. Da aber der Alptraum des Panoptikums – du bist nie allein – heute als hoffnungsvolle Botschaft wiederkehrt - 'Du mußt nie wieder allen (verlassen, übersehen, vernachlässigt, überstimmt und ausgeschlossen) sein' -, wird andererseits die alte Angst vor Entdeckung von der Freude darüber abgelöst, daß immer jemand da ist, der einen wahrnimmt. Daß diese Entwicklungen, und vor allem ihr harmonisches Zusammenwirken zur Beförderung desselben Zwecks, möglich wurden, liegt offensichtlich daran, daß heute nicht mehr Inhaftierung und Arrest, sondern Ausgrenzung als schlimmste Bedrohung der existentiellen Sicherheit gilt und als Hauptquelle von Ängsten fungiert. Das Beobachtet- und Gesehenwerden hat sich dadurch aus einer Bedrohung in eine Verheißung verwandelt. Das Versprechen erhöhter Sichtbarkeit, die Aussicht, 'ins Freie zu gelangen', wo einen jeder sehen und bemerken kann, kommt dem ersehnten Beweis gesellschaftlicher Anerkennung nahe, also einer wertvollen - 'sinnvollen' - Existenz. Sein ganzes Leben samt allen Fehlern und Mißgriffen in öffentlich zugänglichen Verzeichnissen verschlagwortet zu haben, erscheint als das bestmögliche prophylaktische Antidot gegen das Gift des Ausgeschlossenwerdens – und zugleich als potenter Weg, die Gefahr einer Zwangsausweisung abzuwehren; tatsächlich ist es eine Versuchung, der zu widerstehen sich wohl nur wenige Praktiker von zugegebenermaßen prekärer sozialer Existenz stark genug fühlen werden. Mir scheint, daß der phänomenale Erfolg der 'sozialen Netzwerke' in jüngster Zeit ein gutes Beispiel für diesen Trend ist.“
        • S. 174-178 sowie S. 181-185: Was können wir tun, worauf hoffen? - D.L.: „Nachdem ich unsere Diskussion bis hierhin noch einmal durchgelesen habe, fände ich es sinnvoll, wenn wir uns noch einmal mit einigen Fragen befassen würden, die wir hier und da gestreift, aber nicht ausführlich besprochen haben – und zwar unter dem Aspekt, was wir selber tun können und worauf sich eine Hoffnung auf Besserung gründen läßt. Die erste dieser Fragen berührt einen wichtigen Bereich der Überwachungstheorie, und sie bezieht sich auf eine Bemerkung, die Sie im Gespräch mit Peter Beilharz äußerten, wonach Sie aus der Lektüre Gramscis gelernt haben, daß die Menschen durchaus sehr genau wissen und verstehen, wie die Gesellschaft funktioniert, weshalb wir sie nie einfach als Opfer sozialer Strukturen betrachten sollten, so mächtig diese auch sein mögen. Manche Studien zur Überwachung deuten hingegen eher darauf hin, daß sich die Menschen heute der Bürokratie, den Kameraobjektiven sowie der Verfolgung und Lokalisierung durch das eigene Mobiltelefon einfach nicht mehr zu entziehen vermögen. Was also könnten wir tun, um dies zu ändern? Die zweite Frage hängt mit der ersten zusammen, insbesondere insofern Sie in Ihren Arbeiten, auch hier in der Nachfolge Gramscis, immer wieder darauf verweisen, daß die Dinge nicht so sein müssen, wie sie sind. Menschen können etwas ändern und tun das auch, sie können ihre Denkmuster hinter sich lassen und zuweilen gar den Lauf der Geschichte hin zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität beeinflussen. Sosehr man auch beklagen mag, daß sich die Mächtigen zunehmend in den 'space of flows' verflüchtigen, daß unter dem Deckmantel des 'Heimatschutzes' eine zutiefst rassistische Politik praktiziert und derart weit gespannte 'Rasternetze' ausgeworfen werden, daß jeder von uns in eine 'Verdächtigenkategorie' fallen kann, und daß die Gleichgültigkeit gegenüber dem generellen Verlust der Kontrolle über unsere Daten stetig zunimmt, glaube ich doch nicht, daß alles verloren ist. Inwiefern gibt es Anlaß zur Hoffnung? Wie sehr wird sie untergraben durch Unsicherheit, Ambivalenz oder gar Argwohn? Und welche Rolle spielt die Hoffnung für die von Ihnen beschriebene grundsätzliche Entscheidung zwischen Menschlichkeit und Inhumanität in unserem Leben?“ Z.B.: "Wir haben nur dann eine Chance, wenn (wenn!) wir glauben, daß es so ist (vor beinahe hundert Jahren fand W.I. Thomas das heraus und verallgemeinerte: 'Wenn Menschen etwas für wahr halten, führt das oft dazu, daß es aufgrund ihres Handelns auch wahr wird'). Doch selbst dann wäre nicht alles verloren – die innere Auflehnung gegen die Aussichtslosigkeit, würde sie auch selbst in die tiefsten Unterhölzer des Unterbewußten abgedrängt, gräbt sich Breschen, schlägt Schneisen in die vermeintliche Gewißheit und bahnt damit Wundern den Weg, die tatsächlich immer wieder geschehen ... Vermutlich ist es dem Menschen von seinem Wesen her unmöglich, in dem Bewußtsein, daß alles aus und verloren sei, zu leben; und vermutlich liegt das daran, daß es sich bei uns um eine notorisch zur Grenüberschreitung neigende Spezies handelt, die mit einer Sprache beschenkt und geschlagen ist, zu der auch das Wort 'Nein' gehört (das sie befähigt, das, was ist, abzulehnen) und die in der Lage ist, so etwas wie Zukunftsvisionen zu entwickeln (die sie befähigen, sich von der Vorstellung einer Welt, die 'noch' nicht existiert, aber 'bald' existieren könnte, mit derselben Kraft antreiben zu lassen, wie sich andere Tiere allein durch ihnen sinnlich unmittelbare zugängliche Realitäten antreiben lassen). Für ein freies, transzendierendes und grenzüberschreitendes Tier wie den Homo sapiens ist kein Zustand denkbar, in dem tatsächlich und endgültig alles 'aus' wäre. Was allerdings auch nicht heißt, daß sich die Zukunftsvisionen einfach so verwirklichen ließen, ohne das Risiko des Scheiterns, oder daß ein narrensicheres (und vor allem unumstrittenes) Rezept für die Lösung aller Probleme irgendwo herumläge und nur darauf wartete, gefunden zu werden, oder daß, sobald es einmal gefunden wäre, es allgemein auf Zustimmung träge und unter allgemeinem Beifall ausgeführt würde. Dazu verweise ich auf das, was wir im Zusammenhang mit den Äußerungen Houllebecqs in jenem Interview gesagt haben ..."
        • S. 176ff. „Ein anderer Punkt: Der Nationalstaat ist nicht die einzige Institution, die sich heute in einer tiefgreifenden Existenzkrise befindet. Auch das Individuum durchlebt eine solche, da es sich (wie Ulrich Beck wiederholt gezeigt hat) der Aufforderung und Erwartung ausgesetzt sieht, 'individuelle Lösungen für gesellschaftlich verursachte Probleme' zu finden. Unser aller 'Individualität' beruht heute auf diesem – ungeschriebenen, aber tief in alle oder beinahe alle sozialen Praktiken eingesenkten – Dekret. Wir sind zwar 'Individuen de jure', doch vom faktischen Status eines Individuums sind die meisten von uns bei vielen Gelegenheiten sehr weit entfernt (weil es ihnen an Kenntnissen, Fähigkeiten und/oder Ressourcen mangelt, oder einfach, weil sich die 'Probleme', vor denen wir stehen, nur kollektiv, nicht im Alleingang 'lösen' ließen, also nur durch gemeinsames koordiniertes Handeln von vielen). Doch der Verweis auf die Kluft zwischen den (von uns auch verinnerlichten) gesellschaftlichen Erwartungen und unseren tatsächlichen Fähigkeiten wird kaum als Rechtfertigung anerkannt werden – weder von der sogenannten 'öffentlichen Meinung' noch vor unserem eigenen (wenn auch gesellschaftlich zugerichteten) gewissen. Ich vermute, daß das zutiefst demütigende, einen jeder Würde und Hoffnung beraubende Gefühl, zu einem Leben in unentrinnbarer und nicht zu behebender Unterqualifiziertheit verdammt zu sein, der mächtigste Stimulus für die Einwilligung in die aktuelle Form der 'freiwilligen Knechtschaft' (z.B. durch die Mitwirkung an unserer elektronischen Überwachung) ist, die letztlich nur einen verzweifelten Versuch darstellt, der Ausgrenzung und der Einsamkeit zu entgehen, die absolute Ohnmacht bedeuten. Vielleicht können wir uns alldem 'nicht mehr entziehen' – aber wir melden uns auch selber an, 'klicken uns rein' und tauchen aus freien Stücken ein, um uns ein letztes bißchen Hoffnung zu bewahren.“ D.L. „Wenn das so ist, dann wird uns auch die letzte Hoffnung bald verlassen! Es kann gar nicht anders sein! Denn wie soll sich, in Zeiten der Verflüssigung und Verflüchtigung, überhaupt noch etwas 'bewahren' lassen? Ich bin Ihrer Meinung, daß die Moderne aufgrund ständiger tektonischer Verschiebungen weit weniger solide ist, als sie einst zu sein schien – obgleich Marx und andere ja schon damals davor warnten, daß diese Epoche alles Feste 'verdampft' -, da wir in unseren 'Risikogesellschaften' einerseits von Ambivalenzen und andererseits von lediglich 'hergestellten' (also nicht fraglos vorhandenen) Sicherheiten umgeben sind, die unablässig neue 'Sicherheitslücken' hervorbringen. Kein Wunder, daß die Hoffnung den Kopf hängen läßt und selbst ihr schwachbrüstiges Double, der Optimismus, hinter den Kulissen zitternd auf ein noch so bescheidenes Stichwort wartet, das ihm zu einem Auftritt auf der rauhen Bühne unserer Gegenwart verhelfen würde. Die digitalen Informations- und Bilderströme, mit denen wir es im Bereich der Überwachung zu tun haben, verstärken allerorts den 'Verdampfungsprozeß', durch den auch, wie manche meinen, unser 'kulturelles Gedächtnis' gleichsam ausgekühlt wird. Die 'warmen', lebendigen Erinnerungen, die der Entwicklung einer Kultur ethische und moralische Schranken setzen könnten, werden von der Coolness verdrängt, mit der man eine eingehende E-Mail, ein Status-Update bei Facebook oder eine revidierte Umsatzprognose registriert, während sie einem durchs Bewußtsein huschen. Auch im Bereich der Überwachung sind die Dinge – wie Ihre Metapher des 'Eintauchens' nahelegt – unablässig im Fluß. Auch hier ändert sich der Status eines Konsumenten mit jedem neuen Bit in Transaktionen generierter Informationen, und die Wahrscheinlichkeit, daß man an einem Flughafen zur weiteren Befragung festgehalten wird, hängt vom Verkehrsaufkommen und den jeweils aktuellsten Spuren ab, die man in seinem Kielwasser hinter sich herzieht.“
        • S. 181-185 - Z.B.: „Gérard Berry, einer der führenden französischen Experten für die gesellschaftlichen Auswirkungen der Informationstechnik, berichtet im Interview mit Rogers-Pol Droit von einer Begegnung mit tunesischen Teenagern unmittelbar nach der Revolution. Er erzählte ihnen, wie mühsam es in ihrem Alter für ihn war, auch nur kleine Versammlungen einzuberufen, was seine Gesprächspartner erstaunte und belustigte. Sie hatten sich eine solche Welt und die Umstände in ihr noch niemals vorzustellen versucht. Dann war wiederum Berry erstaunt und belustigt, als er auf die Frage, wie sie 'darauf gekommen' seien, elektronische Mittel für die Verabredung ihrer Zusammenkünfte zu benutzen, nur ratloses Schulterzucken erntete. Er begriff, daß die Frage falsch gestellt war. Diese jungen Leuten hatten nie in einer Welt ohne Facebook und Twitter gelebt – und deshalb mußten sie gar nicht erst 'darauf kommen', diese zur Konstruktion und Dekonstruktion ihrer sozialen Welt zu nutzen. Die einzige soziale Welt, die sie kannten und in der sie sich heimisch fühlten, war eine digital betriebene. Für sie sei das Internet etwas ähnlich Natürliches wie ein Berg oder das Meer, so Berry, und ihnen fiel nichts ein, womit sie es hätten in Relation setzen können, um seine Vorzüge und Nachteile zu eruieren. Von Droit aufgefordert, vorherzusagen, wohin uns das führen wird, fühlte sich Berry offensichtlich unbehaglich. Wenn mein Handy, so sagt er, 'via GPS ständig meine Koordinaten übermittelt und mein Computer jeden meiner Klicks meldet, wird man kollektive und individuelle Verhaltensweisen in allen Einzelheiten messen können, wodurch eine gewaltige Menge an Informationen entsteht, die sehr gefährlich für die Demokratie werden kann. Wenn man das den Leuten nicht jetzt bewußt macht, werden diese gefährlichen Praktiken installiert sein, bevor man die richtigen Fragen stellen kann. Eine ordentliche demokratische Debatte wird dann nicht mehr stattfinden, es wird zu spät für sie sein.' Sollen wir also zumindest vorläufig (bis wir wissen, was die Menschen daraus machen, und dadurch belastbarere, weniger ambivalente Belege besitzen) sagen, daß die digitale Überwachung ein scharfes Schwert ist, für das wir bislang noch keine Scheide gefunden haben – und zudem ein weischneidiges Schwert, in dessen Handhabung wir fürs erste weder allzu geübt noch allzu sicher sind? Was Ihre Hoffnung betrifft, David: Daß er hofft, ist ein Wesenszug des Menschen, den wir niemals verlieren können, ohne damit auch unsere Menschlichkeit zu verlieren. Genauso sicher ist jedoch, daß wir noch lange nach einem sicheren Hafen suchen müssen, in dem diese Menschlichkeit vor Anker gehen kann. Wir alle kennen die Legende von dem Knaben, der alle paar Tage ins Dorf gerannt kam und ausrief: 'Die Wölfe kommen!', und wir wissen, was aus ihm wurde, als die Wölfe einmal wirklich kamen … Was wir meist weniger gut wissen und schneller vergessen, ist, daß all jenen ein ähnliches Schicksal blüht, die vom Krähennest am Hauptmast aus immer wieder verkünden, daß das Gelobte Land in Sicht sei ..." D.L. „Wie schon in unseren vorhergegangenen Gesprächen wird wohl auch diesmal das Ende angemessen offenbleiben. Aber Ihre Bemerkungen provozieren mich dazu, ein letztes Mal genauer nachzufragen. Ja, Hoffen und Menschsein sind untrennbar miteinander verbunden, und ja, es kann noch (und in einer flüchtigen Moderne, könnte man sagen, um so länger) dauern, bis wir einen sicheren Ankerplatz finden. Zwar warnte der Knabe aus der Legende vor einer nicht existenten Gefahr, aber was tun die, die ständig das Herannahen des 'Gelobten Lands' verkündigen? Die Geschichte vom Wolf macht deutlich, daß man immer die Wahrheit sagen sollte, wenn man seine Glaubwürdigkeit nicht verlieren will. Wir haben einige Gegenbeispiele erwähnt, die törichte futuristische Versprechungen bezüglich der verwandelnden Macht von (zum Beispiel) Technologien betreffen. Und wir können uns sofort darauf einigen, daß ein solcher grundloser Optimismus im gleichen Maße eine Lüge ist wie die Warnung vor dem schrecklichen Tier in der alten Legende. Können wir aber nicht doch mehr tun? Darf ich hier von einer Überzeugung erzählen, die mir in meiner Beschäftigung mit dem Thema Überwachung den richtigen, notwendig auf Hoffnung beruhenden Weg gewiesen hat? Sich zu persönlichen Überzeugungen zu bekennen, mag unter Soziologen und Historikern unüblich sein, aber natürlich spielen diese doch immer eine Rolle, zumindest eine hintergründige. Sie lassen sich nicht beweisen (was immer das heißt), sind aber stets Voraussetzungen unserer Arbeit. Wir alle stützen uns, ob wir wollen oder nicht, auf solche vortheoretische Annahmen. Als ich mich mit den Folgen der Ereignisse des 11. Septembers 2001 befaßte, versuchte ich die überall wie Pilze aus dem boden schießenden verbalen Ausgrenzungen im Namen einer sicherheitsmotivierten Überwachung zu verstehen. Ein neues, eindeutiges Vokabular bildete sich in Medien und Politik heraus, das Begriffe wie 'Muslim', 'arabisch', 'Naher' und 'Mittlerer Osten' zu einer neuen Kategorie zusammenfaßte. Bourdieu hat auf die schlichte Tatsache hingewiesen, daß das Schicksal menschlicher Gruppen mit den Begriffen verbunden ist, mit denen sie bezeichnet werden, und inzwischen wissen wir, wie folgenreich es für die so Bezeichneten ist, wenn sie mit dem Begriff 'Terrorist' in Verbindung gebracht werden. Das ist machtgestützte Ausgrenzung, die Betroffenen werden aus dem Bereich des normalen (und in diesem Fall legalen) Lebens gedrängt. Der Theologe Miroslav Volf meint, daß das Spektrum der Ausgrenzung von der 'Eliminierung' (etwa in Bosnien oder Ruanda) bis zur 'Assimilation' reicht ('du kannst bei uns überleben, [...] wenn du deine Identität aufgibst' – in dieser Woche hat die kanadische Regierung verfügt, daß Frauen unverschleiert zu ihrer Einbürgerungsfeier erscheinen müssen). Und natürlich gehören auch die Ausschlußverfahren dazu, die wir im Zusammenhang mit 'schadhaften' und unerwünschten Konsumenten diskutiert haben. Wir wissen längst, wie sich Ausgrenzung auch durch automatisierte Abwendung herstellen läßt.“
    • Leipziger Kamera (Hrsg.): Kontrollverluste - Interventionen gegen Überwachung
      • Ulf Treger: "Das Monster beschwören. Die Problemstellen derzeitiger Überwachungskritik", S. 101-106

Überlegungen

  • Textkriterien
    • keine redundanten Informationen
    • keine Schachtelsätze, sondern einfache Sprechsätze. Texte ggf. anpassen?
  • Vortrageart
    • lebendige Kommunikation, Kontakt zum Publikum halten, fast eine Aufführung, Authentizität, ruhiges/ besonnenes Gespräch mit dem Publikum
    • Interviewer, der die Fragen stellt, als Einleitung zu den einzelnen Textstellen: z.B. „Warum hast du es getan?“
  • Länge
    • nicht länger als WWR-Text, max 1.5h
    • ggf. bei längerem Text: 1h, Pause, 1h

Teilnehmende Städte

Wichtig: Nicht zu sehr auf die Personen konzentrieren! Es geht um die Solidarität der Gesellschaft mit z.B. Whistleblowern. Ohne den Rückhalt und Schutz der Gesellschaft, wird es zukünftig immer weniger bis keine freigesetzten Dokumente geben und damit keine neuen Erkenntnisse. Edward Snowden steht hier exemplarisch für alle anderen Whistleblower.