Freedom Not Fear 2008/Berlin de/Reden/Bendrath

Aus Freiheit statt Angst!
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Rede von Ralf Bendrath vom Netzwerk Neue Medien auf der Demo "Freiheit statt Angst" am 11.10.2008 in Berlin

Manuskript (Bitte an Redetext anpassen!)

Liebe Freundinnen und Freunde,

vor einem Jahr haben wir hier gegen die zunehmende staatliche Überwachung protestiert. Seitdem ist uns netterweise nach Herrn Schäuble jetzt die deutsche Wirtschaft zu Hilfe gekommen, um noch mal richtig für den Datenschutz zu mobilisieren. Es hieß ja immer von unseren Gegnern, wer nichts zu verbergen hat, der habe auch nichts zu befürchten. Der Schnüffelskandal bei der Telekom, die Mitarbeiter-Bespitzelung bei Lidl, die kriminellen Geschäfte diverser Daten-Junkies in der Werbewirtschaft, und zuletzt der Daten-Gau bei T-Mobile zeigen in aller Deutlichkeit, dass das nicht stimmt.

Im Gegenteil, es zeigt, was wir schon lange gesagt haben: Alle Datensammlungen über uns können früher oder später missbraucht werden!

Wir wollen eine Politik, die uns vor dem Missbrauch von Datensammlungen schützt. Und damit meinen wir die Datensammlungen der Wirtschaft, aber auch die des Staates.

Wir wollen eine Politik, die Bürgerrechte stärkt.

Wir brauchen Verfassungsschützer, nicht Verfassungsgegner in den Ministersesseln!

Das passiert aber nicht von alleine. Ich zitiere dazu die als Revoluzzerin unverdächtige SPD-Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin, Gesine Schwan. Sie sagte erst vor wenigen Monaten:

„Ohne einen deftigen Schuss an Rebellion bewegen sich die Etablierten nicht.“ Denn der Politik gelingt es immer weniger, „Gemeinwohlorientierte Entscheidungen durchzusetzen.“ Deshalb sei ziviler Widerstand nötig, „um der Werte der Demokratie willen“.

Liebe Freundinnen und Freunde,

genau diesen zivilen Widerstand haben wir gemeinsam erfolgreich aufbauen können in den letzten drei Jahren. Als wir vor einem Jahr zuletzt hier demonstriert haben, da wollten wir verhindern, dass der Bundestag die Vorratsdatenspeicherung beschließt. Das hat leider nicht funktioniert. Die Vorratsdatenspeicherung für Telefondaten ist seit dem 1. Januar in Kraft, die Internet-Speicherung soll am 1. Januar 2009 gestartet werden. Nächste Woche will die große Koalition das BKA-Gesetz beschließen.

Haben wir deswegen verloren? Nein.

Werden wir deswegen aufgegeben? Nein, niemals!

Denn es hat sich seitdem einiges getan, was mich sehr zuversichtlich stimmt.

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung hat im Februar mehr als 34.000 Klagevollmachten in Karlsruhe eingereicht und damit ein deutliches Zeichen gesetzt. Eine Verfassungsbeschwerde mit so vielen Teilnehmern und Teilnehmerinnen gab es noch nie!

Im Mai sind wieder viele tausende Datenschützer in zig Städten in ganz Deutschland dezentral auf die Straße gegangen. In Köln haben im März, in München im September und in Leipzig vor einer Woche ebenfalls größere Demonstrationen gegen den Überwachungswahn mit mehreren tausend Teilnehmern stattgefunden. Sie haben dabei auch vor Ort die Bündnisse gestärkt und neue Mitstreiter gewonnen.

Und heute protestieren wir erstmals gemeinsam mit unseren Freundinnen und Freunden in mehr als 20 Ländern auf drei Kontinenten. In London und Stockholm, in Sofia und Skopje, in Paris und Washington, ja sogar in Buenos Aires. Auf dem lateinamerikanischen Sozialforum in Guatemala und an vielen anderen Orten finden heute unter dem Motto „Freedom not Fear“ Demonstrationen, Straßenaktionen, Informationsveranstaltungen oder Privacy-Parties statt.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich euch die Grüße von unseren Mitstreitern im Ausland überbringen. Unsere Arbeit in Deutschland in den letzten drei Jahren war auch Inspiration für viele Freiheitsfreunde in aller Welt, und ich bin gebeten worden, euch hier an ihrer Stelle dafür ausdrücklich zu danken.

Die Welt schaut auf uns und ist uns dankbar fü unseren Kampf gegen den Überwachungswahn!

Man merkt bereits, was wir mit all diesen Aktionen erreicht haben: Während noch vor zwei Jahren in den meisten Massenmedien die Angst vor dem Terror kaum hinterfragt, sondern eher noch weiter geschürt wurde, ist es mittlerweile für die Verfassungsgegner aus den Innenministerien zunehmend schwer, in der Öffentlichkeit Zustimmung zu finden.

Und Wolfgang Schäuble kann kaum noch einen öffentlichen Auftritt machen, ohne dass er von freiheitsliebenden Bürgerinnen und Bürgern empfangen wird, die ihm und der Öffentlichkeit zeigen, dass sie seine paranoide Politik nicht wollen.

Auch die etablierten Parteien entdecken die Grundrechte wieder. Ich freue mich darüber, und ich freue mich ausdrücklich, dass die gesamte Opposition auch zu unserer Demonstration aufgerufen hat. Ich würde mir nur wünschen, dass diese Positionen nicht gleich wieder aufgegeben werden, sobald man an der Regierung ist!

Der eigentliche Punkt ist aber: Dies alles passiert nicht, weil die Leute plötzlich ein Einsehen haben und ihnen aufgefallen ist, dass sie es mit dem Ausbau der Überwachungsmaßahmen zu weit getrieben haben.

Nein, sie erinnern sich an die Bürgerrechte, weil wir sie mit all unseren Aktionen, unserem Protest und unserer gemeinsamen Arbeit daran erinnert haben!

Diese gemeinsame Arbeit müssen wir weiter ausbauen.

Wann hat es denn das letzte Mal eine Demonstration gegeben, zu der mehr als einhundert Gruppen und Organisationen aufgerufen haben?

Darunter Berufsverbände und Gewerkschaften, Hacker und Bürgerrechtler, Selbsthilfegruppen und Parteien, Linksradikale und Marktliberale?

Diese Breite unserer Bewegung ist eine riesige Chance, die wir nutzen müssen _ nicht nur auf großen Demonstrationen wie heute, sondern auch im Kleinen und in der täglichen Arbeit vor Ort.

Ich wünsche mir daher, dass ihr nach der Demo und den Parties heute Abend nicht nach Hause fahrt und euch wieder in eure Gruppen und Subkulturen, in eure Blog-Zirkel und Chatforen zurückzieht.

Ich wüsche mir, dass ihr raus und auf andere zu geht.

Das wird nicht immer einfach sein, gerade weil es innerhalb dieser breiten Bewegung gegen den Überwachungswahn sehr vielfältige und unterschiedliche politische Stoßrichtungen und Analysen, aber auch Milieus und Aktionsformen gibt. Aber es ist gerade diese Vielfalt, die uns stark macht!


Von allen Gruppen können wir dabei etwas lernen:

  • Asyl-Initiativen und Hartz-IV-Empfänger mussten und müssen erfahren, wie Überwachungsmaßnahmen vom Fingerabdruck bis zur Kontenabfrage zuerst an schwachen Minderheiten ausprobiert werden;
  • Anwälte, Ärzte und Priester können berichten, welche fundamentale Bedeutung absolut abhörfreie Räume für ihre Arbeit haben;
  • Muslime können erzählen, wie es ist, täglich unbegründeten Verdächtigungen ausgesetzt zu sein, weil man angeblich in irgendein Raster passt;
  • Gewerkschaftler wissen, wie Überwachung und tägliche Repression im Betrieb aussehen und wie man sich dagegen wehrt;
  • die Leute vom AK Vorratsdatenspeicherung können erzählen, wie netzgestützter dezentraler Aktivismus funktioniert und auch, wo er seine Grenzen hat;
  • die Hacker vom Chaos Computer Club haben viele Tricks zur Datenschutz-Selbsthilfe auf Lager;
  • viele linksradikale Kritiker der herrschenden Verhältnisse wissen aus eigener Erfahrung, wie ein an vagen Verdächtigungen aufgehängtes oder gar politisch motiviertes 129a-Verfahren das komplette Leben umkrempeln und zerstören kann.
  • Friedensbewegte oder Umweltschützer haben eine lange Erfahrung in zivilem Ungehorsam und anderen Protestformen;
  • und so weiter.

Ein solcher Austausch untereinander, verbunden mit Neugierde und Toleranz, wird uns noch weiter stärken, da bin ich sicher. Er wird auch zu mehr Klarheit und Entspanntheit führen, wenn es etwa darum geht, bestimmte Aktionen auch mal alleine und nicht im Bündnis zu machen. Und er wird dafür sorgen, dass wir uns nicht spalten lassen, sondern im Gegenteil gemeinsam immer stärker werden im Kampf gegen die Überwachung.

Denn gemeinsam sind wir stark, das sehen wir heute deutlicher denn je!

Momentan müssen wir noch gegen den Abbau der Freiheiten kämpfen. Aber das wird sich ändern: Wir wollen nicht weniger, sondern mehr Freiheit.

Wir werden täglich mehr, die immer lauter rufen: „Freiheit statt Angst! Stoppt den Überwachungswahn!“


Siehe auch

weitere Reden am 11.10.2008